Sie hatten die Steine ausgegraben – die Wissenschaftler.
Die Steine lagen in einer Truhe, die wohl ziemlich kostbar war. Die Truhe war ihre Sensation; mit den Steinen wußten sie dagegen nicht viel anzufangen. Sie untersuchten sie zwar auch lang und breit, wogen sie, fotografierten sie, aber sie blieben nur einfache Steine. Granit oder Sandstein, was weiß ich, ich habe ja nicht viel Ahnung. Ich stehe ja bloß rum, wenn sie ihr Getue machen, sich filmen lassen, kluge Worte in Mikrofone reden, und ich fege hinterher den Dreck weg. Ich glaube, für sie waren die Steine auch nur Dreck. Sie schlossen sie nicht mal in den Schrank, als sie nach Hause gingen. Und so kam es, daß ich nach dem Ausfegen noch viel Zeit hatte, mir die Steine anzusehen.
Für mich waren sie kein Dreck. Ich finde es ganz zufällig, ob ein Stein blank oder hart oder durchsichtig ist, und ein Stück Glas oder ein Kiesel kann viel schöner sein als ein Diamant. Die Wissenschaftler sagen, das eine wäre wertvoll und das andere nicht, aber ich will lieber anfassen und dann sagen, wie es sich anfühlt.
Ich merkte gleich, daß es mit den Steinen etwas Besonderes auf sich hatte. Nein, nichts, was auf den Meßinstrumenten zu sehen ist. Vielleicht haben sie auch nur die falschen Meßinstrumente. So ein Kribbeln in den Fingern beim Anfassen. Ich wußte gleich, daß mir die Steine etwas sagen wollten. Das können sie einem Lineal natürlich nicht sagen, oder einem Fotoapparat. Ich glaube, die Wissenschaftler haben Angst vor dem, was ihnen die Steine sagen wollen.
Ich bin auch nicht normal. Der normale Wissenschaftler nimmt den Stein in die Hand, und dann sagt er: Ich halte hier in der Hand einen Stein. Aber ich nehme den Stein, und dann werde ich zum Steinmann. Der Stein spricht zu mir. Der Geist des Steines, das ist es, was ich höre.
Ich griff also in diesen Steinhaufen, und da war es: Ich lauschte. Ganz still war ich, alle Gedanken an das andere Zeug waren weg. Wahrscheinlich weiß ein Wissenschaftler gar nicht, daß es so etwas gibt: lauschen. Sie rennen durch die Gegend mit ihren Karteien und Dateien und Kategorien, und was da nicht reinpaßt, da rennen sie dran vorbei. Kann ich nicht. Da war was, und ich wollte wissen, was es ist. Wenn es neu ist, dann muß ich auch neu werden, sonst ist es verloren, und ich habe eine Minute umsonst gelebt.
Wiese. Wiese, das war es. Der erste Stein, den ich griff, der war wie eine Wiese. Oder er hatte den Geist der Wiese. Wiese mit Heu, im Spätsommer. Ich konnte sie sogar riechen.
Der zweite schien erst gar nichts zu haben. Das war komisch. Ich hatte mich schon dran gewöhnt, daß in den Steinen was drin war, und dann war da gar nichts drin. Oder nichts, was rüberkam zu mir. Aber dann merkte ich, daß ich nur gemeint hatte, ich wüßte, was kommen müßte. Ein Etwas, ein Dort-nicht-hier. Und dann wußte ich, was der Geist dieses Steins war: Ich konnte frei atmen. Vorher hatte ich gar nicht gewußt, daß ich nicht frei geatmet hatte; vielleicht hatte ich Angst gehabt vor dem Neuen. Jetzt konnte ich frei atmen. So, als ob der Geist des Steines mir gezeigt hatte, wie das geht. Also war doch etwas drin gewesen, in dem Stein.
Im dritten war ein Haus. Oh, natürlich kein richtiges Haus, nur so das Gefühl, wie ein Haus ist. Mit Wänden und einem Dach, und wie man die Ritzen mit Lehm zuschmieren kann. Und inzwischen fand ich es ganz natürlich, daß mir die Steine etwas sagten. Ich mußte ihnen nur zuhören.
Und ein Stein, der mir sagte, wie man gut schlafen kann, und dann einer, von dem ich wußte, wie man in dem Ort hinter dem Hügel den Schmied finden kann und den Bootsbauer, und was sie für ihre Arbeit haben wollen. Nur, daß ich nicht wußte, welcher Hügel gemeint war, aber ich sah, daß die Sonne hinter ihm unterging.
Ich wurde richtig aufgeregt, bis mir schließlich ein Stein sagte, daß ich nicht richtig zuhören könnte, wenn ich so aufgeregt bin. Da nahm ich dann noch einmal den Stein, von dem man gut atmen kann, und der half mir. Da sagte ich ihm danke, und das war ein gutes Gefühl.
Mir fiel etwas ein. Irgendwie mußte ja der Geist in die Steine gekommen sein. Wenn ich jetzt danke sagte, hatte ich dann dem Stein etwas gegeben? Und würde das auch wieder jemand hören können, der den Stein in die Hand nahm und ihm richtig zuhörte?
Ich nahm wieder den ersten Stein in die Hand. Den mit der Wiese. Erst wollte ich wissen, ob ich ihm etwas eingegeben hatte, und da konnte ich gar nichts spüren.
Aber ich merkte schnell, daß ich es wie die Wissenschaftler gemacht hatte, die immer alles schon vorher wissen. Also hielt ich die Klappe, also die geistige, und ließ geschehen, was da geschehen wollte. Und da war sie, die Wiese. Ich erkannte sie wieder, und auch den Heugeruch. Irgendwie war sie schon meine Wiese. Vielleicht erkannte sie mich auch wieder? Und wenn jemand Wiese gedacht hatte, oder mit dem Stein Wiese gemacht, dann müßte doch dieser Jemand auch Spuren in dem Stein hinterlassen haben? Und wieder fing ich an zu suchen und fand nichts.
Da nahm ich einen anderen Stein. Von dem wohligen Gefühl in meinem Rücken merkte ich, daß es der war, der wußte, wie man gut schläft. Ich wußte ja jetzt auch schon, wie er es gemeint hatte. Dann wurde es aber immer besser, weil ich jetzt länger zuhörte. Und dann wußte ich auch, wie die Person war, die es eingegeben hatte: Sie hatte natürlich nicht ihren Personalausweis eingegeben, sondern ein Gefühl von sich. So ein Hinlegen und Egalsein, sich Ausstrecken, alles was ist ist irgendwie, und Gähn, was gehts mich an, und wenn Gedanken kommen, ist gut, und wenn nicht, auch gut. Gedanken wie Wolken, die vorbeiziehen. Das kannte ich, das hatte ich auch mal irgendwo gelesen, in einem Buch über Meditation. Da wurde ich plötzlich so aufgeregt, daß ich den Finger in den Mund stecken mußte. Das wars! Das waren nicht einfach Steine, das waren Steine, in denen Gefühle steckten! Und wenn man sie in die Hand nahm, dann bekam man etwas zu wissen: wie ein Haus aussah, wie man ins Nachbardorf kam, wie man Suppe kochte, oder wie man gut schlief. Wie praktisch! Mami, was ist ein Hund? Warum hat er vier Beine? Hier, Kind, hast du einen Hundestein, der sagt dir, wie ein Hund ist. Opa hat ihn mir gegeben, der wußte alles über Hunde.
Und schon war ich beim Grübeln. Ja, mit Kindern geht das, die hören zu. Aber sobald sie erzogen sind, dann wissen sie, was gut und böse ist, und dann wollen sie alles besser wissen, und dann können sie nicht mehr zuhören und nicht mehr staunen und nicht mehr fühlen. Dann nehmen sie so einen Stein in die Hand und sagen: Granit, fünfundvierzig Gramm, leichte Bearbeitungsspuren, und damit meinen sie die Kerbe auf der linken Seite. Und alle sagen: Ja, der ist klug.
Wenn ich das den Wissenschaftlern sage, lachen die mich aus. Ich gehe lieber nicht hin und sage ihnen das. Auch wenn sie nicht weiterwissen. Ich habe sie sagen hören, daß die Leute, die die Truhe vergraben oder vergessen hatten, vor langer Zeit, daß die gar keine Bücher und keine Schriftrollen hatten, nicht mal Gedenksteine. Also jedenfalls so die Steine, wo Schrift außen drauf ist.
Aber wenn ich jetzt zu den Bescheidwissern hingehe und sage, daß die Leute damals doch Gedenksteine hatten, nur eben daß die Gedanken und Gefühle nicht außen drauf sind, sondern innen drin, und man müßte sie nur in die Hand nehmen und neugierig sein.. Wahrscheinlich würden sie mich einsperren. Aber vielleicht gibt es ja anderswo Leute, die noch nicht alles wissen.
(1995)