Strategie (Tagesspiegel)

Tagesspiegel

Donnerstag, 7. Dezember 2023 – von Benjamin Reuter

Die ukrainische Gegenoffensive in diesem Jahr endet als große Enttäuschung. Zwar hat Kiew auch Erfolge zu verbuchen, wie die Öffnung des Schwarzen Meeres für den Handelsverkehr mit Schiffen und die Angriffe auf die Krim. Die führten dazu, dass Russland die besetzte Halbinsel nicht mehr als sicheres Territorium sehen kann.

Doch von den militärischen Zielen, die Anfang des Jahres in Zusammenhang mit der Gegenoffensive diskutiert wurden, ist keines erreicht worden. Kiews Truppen konnten keinen Keil zwischen die russischen Truppen in der Südukraine treiben und das Asowsche Meer erreichen. Politisch oder militärisch ist Russland auch nicht geschwächt.

Sicher, am Ende ist man immer schlauer; aber die Ergebnisse sind wenig überraschend, wenn man weiß, wie die Offensive geplant und diskutiert wurde. Schon im Winter 2022 gab es zwischen Ukrainern, Amerikanern und Briten teils erhebliche Differenzen, wie militärstrategisch vorzugehen sei. Das hat die „Washington Post“ nun in einer aufwendigen Recherche rekonstruiert.

Sehr verkürzt zusammengefasst, liefen die Vorbereitungen folgendermaßen: Vor allem Washington hatte sich für einen einzigen konzentrierten großen Vorstoß ausgesprochen. Die Ukrainer, hier vor allem der Generalstabschef Walerij Saluschnyj, wollten Vorstöße an mehreren Frontabschnitten durchführen. Die Militärplaner aus den USA, darunter Verteidigungsminister Llyod Austin und der damalige Generalstabschef Mark Milley, rechneten für ihren Plan zwar mit massiven Verlusten auf ukrainischer Seite, aber auch mit großen Erfolgsaussichten. Fast die Hälfte der Angriffstruppen hätte Kiew laut den Militärplanspielen, von denen acht unter anderem in Deutschland stattfanden, verloren; also wohl mehrere zehntausend Männer und Frauen. Aber ein langer Krieg, so ihr Argument, würde noch mehr Opfer kosten. Interessantes Detail: Die US-Geheimdienste schätzten laut „Washington Post“ die Erfolgsaussichten der ukrainischen Gegenoffensive sehr viel geringer ein als das US-Militär. Allerdings waren die Geheimdienste im Februar 2022 auch davon ausgegangen, dass Kiew innerhalb von wenigen Tagen fallen würde.

Die Ukrainer waren skeptisch. Vor allem, weil die Annahmen von Austin und Milley auf den Erfahrungen der US-Armee basierten, die in jedem Konflikt in jüngerer Zeit die Luftüberlegenheit hatten. Die fehlte Kiew. Und den ukrainischen Soldaten fehlte die Erfahrung, wie solche großen und gleichzeitig schnellen Angriffe militärisch umzusetzen sind. Saluschnyj wollte die Länge der Front als Vorteil nutzen und die Russen in mehrere kleinere Kämpfe verwickeln, um ihre Truppen an möglichst vielen Orten zu binden. Seine Angst: Würden die Ukrainer ihre ganze Kraft auf einen Angriffspunkt konzentrieren, würden die Russen ihrerseits an einem anderen Punkt durchbrechen. Gewonnen wäre kaum etwas.

Die Amerikaner ließen Kiew am Ende machen. Was blieb, war der Aufwand für die Gegenoffensive. Washington und die anderen Unterstützer Kiews kratzten alles an Munition und Gerät, zusammen, was sie auftreiben konnten. Allein der geschätzte Verbrauch an Artilleriemunition der Ukrainer überstieg alles, was man im Westen liefern und produzieren konnte. So musste Südkorea einspringen, die Hunderttausende Artilleriegeschosse abgaben. Auch Lager in Israel wurden leergeräumt. Hinzu kamen mehr als 2000 gepanzerte Fahrzeuge und Nato-Training für Zehntausende ukrainische Soldaten in Europa.

Die Folge war ein Zwitter aus den beiden Strategien. Die Ukrainer versuchten im Kleinen das, was die Amerikaner sich vorgestellt hatten. Schnelle Angriffe, aber mit weniger Truppen und das an vielen Stellen. Das Problem: Sie kamen zu spät. Als die ukrainische Offensive im Juni startete, waren die Russen schon so tief eingegraben, die Minenfelder so dicht, dass kein Durchkommen mehr war.