Berliner Zeitung
Gerhard Schröder im Interview: So scheiterten die Friedensverhandlungen zwischen Ukraine und Russland
Der Altkanzler spricht über die Israel-Politik von Olaf Scholz, migrantischen Antisemitismus, Baerbocks Moral und wie ein neuer Friedensplan für die Ukraine aussehen könnte.
Tomasz Kurianowicz und Moritz Eichhorn
21.10.2023 | 05:42 Uhr
Gerhard Schröder (SPD), Bundeskanzler a. D., findet, dass Bundeskanzler Olaf Scholz mit Blick auf Israel aktuell keine Fehler macht.
Gerhard Schröder empfängt gemeinsam mit seiner Ehefrau Soyeon Schröder-Kim in seinem Haus in der Hannoveraner Innenstadt. Der Altkanzler ist gut gelaunt, führt durch sein Büro und erläutert, was auf den vielen Fotografien zu sehen ist, wer die zahlreichen Kunstwerke geschaffen hat und unterhält die Gäste mit Anekdoten zur Entstehungsgeschichte. Doch dann wechselt die Stimmung. Die Lage in Israel und der Ukraine treibt den 79 Jahre alten Staatsmann um.
Herr Schröder, nach den Angriffen der Terrororganisation Hamas gegen Israel ist Bundeskanzler Olaf Scholz nach Tel Aviv geflogen. Hat er sich richtig verhalten?
Ich finde, dass Olaf Scholz mit Blick auf Israel aktuell keine Fehler macht. Ein Völkerrechtler hat es in der F.A.Z. richtig gesagt: Es ist das Recht Israels, sich zu verteidigen. Aber: Es gibt auch im Völkerrecht den Hinweis, dass die Verteidigung verhältnismäßig sein muss. Scholz muss die Möglichkeit nutzen, den Israelis zu sagen: „Leute, achtet bei euren Einsätzen auf die Verhältnismäßigkeit.“ Wenn Israel zu aggressiv vorgeht, wird die Stimmung kippen. Ich möchte nicht in den Schuhen von Netanjahu stecken. Sein Volk erwartet von ihm, entschieden zu reagieren. Gleichzeitig darf es zu keiner Eskalation der Gewalt kommen.
Der Terror in Israel hat auch dramatische Auswirkungen auf die Lage in Deutschland. Kürzlich hatten wir in der Redaktion den Leiter der Berliner Chabad-Gemeinde, Rabbi Yehuda Teichtal, zu Gast. Er berichtet von jüdischen Kindern, die nicht mehr in die Schule gehen, Juden müssen ihren Davidstern verstecken und jetzt fliegen Molotowcocktails auf Synagogen. Wie konnte es so weit kommen?
Rabbi Teichtal ist ein kluger Mann, aber es ist trotzdem nicht richtig, das in dieser Weise zu verallgemeinern. Natürlich darf es keinen Hass gegen Juden auf deutschen Straßen geben. Da muss die Polizei intervenieren und die Gerichte müssen Vergehen streng bestrafen. Aber Juden werden in Deutschland geschützt.
Viele Menschen, die Deutschland aus dem arabischen Raum erreichen, bringen ihren Antisemitismus mit. Muss man das bei der Migrationspolitik berücksichtigen?
Entschuldigung, man kann ja nicht auswählen, dass dieser Asylant nach Deutschland kommen darf und jener nicht. Wenn man einen Asylgrund hat, kann man doch nicht fragen: „Bist du eventuell Antisemit?“ Was ich aber durchaus als Staatsversagen betrachte, ist, dass diese Clans in Berlin funktionieren können.
Was meinen Sie damit? Hatte Sarrazin doch recht?
Sarrazin hat gesagt, dass kopftuchtragende Mädchen ein Problem sind. Das ist doch lächerlich.
Und der demografische Wandel zugunsten arabischer Milieus?
Das mag in bestimmten Stadtbezirken ein Problem sein, aber wir brauchen keine Überfremdungsdebatte. Wir haben in der arabischen Jugend ohne Ende antisemitische Kräfte. Das stimmt. Man darf aber auch nicht gleich das Gegenteil tun und alle, die Israel kritisieren, als Antisemiten bezeichnen.
Sie standen in Ihrer Amtszeit vor ähnlich schwierigen außenpolitischen Entscheidungen wie Olaf Scholz heute in Bezug auf Israel und Russland.
Ja. Ich habe dieses Dilemma bei der Bombardierung Jugoslawiens erlebt. Ich habe jede Nacht gezittert: „Kommen die deutschen Piloten lebend zurück? Was passiert vor Ort?“ Mit Afghanistan war das ähnlich. Gott sei Dank sind bei den Einsätzen nur wenige Menschen gestorben. Ich habe mich immer gefragt: Was erzähle ich einer Frau, die mir sagt: „Mein Mann ist tot, weil Sie angeordnet haben, dass er in den Krieg ziehen muss“? Das sind die Entscheidungen, die man nicht treffen möchte. Als es um den Kosovo ging, gab es einen Parteitag der SPD. Die Mitglieder waren alle dagegen. Ich sagte: Es hilft nichts, wir müssen das machen. Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden
Sie waren Bundeskanzler und haben eine Entscheidung getroffen, mit der Sie heute leben müssen. Sagen Sie uns: Wie läuft das technisch ab?
Wenn es dramatisch wird, also nehmen wir mal den Irakkrieg, gehen die Informationen erst im Kanzleramt ein. Sie werden dem Bundeskanzler durch den Staatssekretär vorgelegt. Dann muss der Bundeskanzler entscheiden. Die Entscheidung, die der Bundeskanzler trifft, ist seine eigene. Die Verantwortung dafür ist nicht delegierbar. Dann braucht man einen Koalitionspartner, der diese Entscheidung auch akzeptiert.
Gibt es keinen Druck von außen? Anrufe von den Verbündeten, den USA?
Nein, so läuft das nicht. Da gibt es ganz viele Leute, die die Informationen zum Thema vorbereiten. Deren Chef ist der Sicherheitsberater auf der Seite des Kanzleramts. Danach sieht die Dokumente der Staatssekretär, in meinem Fall der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und legt die Dokumente dem Kanzler vor. Aber entscheiden muss der Bundeskanzler selbst. Nehmen wir Irak. Da waren alle unsicher, ob ein Nein zum Irakkrieg nicht die Freundschaft zu Amerika zerstöre. Sie müssen am Ende sagen: Ja oder nein. Ich habe nein gesagt.
Zum Glück hatten Sie die Franzosen an Ihrer Seite.
Ja, und das ist interessant. Ich weiß nicht, was heute in dem Krieg Russland-Ukraine passieren würde, wenn Jacques Chirac noch lebte. Eigentlich müssten sich Scholz und Macron für einen Friedensprozess in der Ukraine einsetzen, weil es nicht nur eine amerikanische, sondern vor allem eine europäische Angelegenheit ist. Man müsste fragen: Was können wir tun, um den Krieg zu beenden? Heute wird nur gefragt: Was können wir tun, um mehr Waffen zu liefern?
Was könnte man denn tun?
Ich bekam 2022 eine Bitte aus der Ukraine, ob ich nicht zwischen Russland und der Ukraine vermitteln könne. Die Frage war, ob ich Putin eine Botschaft übermitteln könne. Es käme auch jemand mit, der ein sehr enges Verhältnis hätte zum ukrainischen Präsidenten selbst. Das war Rustem Umjerow, der heutige Verteidigungsminister der Ukraine. Er ist Angehöriger der Minderheit der Krimtataren. Dann war die Frage: Wie kann man den Krieg beenden?
Wie?
Es gibt fünf Punkte. Erstens: Ein Verzicht der Ukraine auf die Mitgliedschaft in der Nato. Die Ukraine kann ohnehin die Bedingungen nicht erfüllen. Zweitens: Das Problem der Sprache. Das ukrainische Parlament hat die Zweisprachigkeit abgeschafft. Das muss geändert werden. Drittens: Donbass bleibt Teil der Ukraine. Der Donbass braucht aber eine größere Autonomie. Ein funktionierendes Modell wäre das von Südtirol. Viertens: Die Ukraine braucht außerdem Sicherheitsgarantien. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen plus Deutschland sollte diese Garantien geben. Fünftens: die Krim. Wie lange ist die Krim russisch? Die Krim ist für Russland mehr als nur ein Landstrich, sondern Teil ihrer Geschichte. Man könnte den Krieg beenden, wenn nicht geopolitische Interessen im Spiel wären.
Und das Völkerrecht.
Ja, aber das ist nicht nur eine Rechtsfrage. Die Einzigen, die den Krieg regeln könnten gegenüber der Ukraine, sind die Amerikaner. Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit Rustem Umjerow haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie nicht durften. Die mussten bei allem, was sie beredet haben, erst bei den Amerikanern nachfragen. Ich habe mit Umjerow zwei Gespräche geführt, dann mit Putin ein Vier-Augen-Gespräch und danach mit Putins Gesandten. Umjerow hat das Gespräch mit Grüßen von Selenskyj eröffnet. Als Kompromiss für die Sicherheitsgarantien der Ukraine wurde das österreichische Modell vorgeschlagen oder das 5+1-Modell. Das fand Umjerow gut. Auch bei den anderen Punkten zeigte er Bereitschaft. Er sagte auch, dass die Ukraine keine Nato-Mitgliedschaft wolle. Er sagte auch, dass die Ukraine Russisch im Donbass wieder einführen will. Doch am Ende passierte nichts. Mein Eindruck: Es konnte nichts passieren, denn alles Weitere wurde in Washington entschieden. Das war fatal. Denn das Ergebnis wird nun sein, dass man Russland enger an China bindet, was der Westen nicht wollen sollte.
Und die Europäer?
Sie haben versagt. Im März 2022 hätte es ein Fenster gegeben. Die Ukrainer waren bereit, über die Krim zu reden. Das hat damals sogar die Bild-Zeitung bestätigt.
(Gerhard Schröder zeigt eine Seite aus der BILD-Zeitung mit dem Titel „Endlich Frieden in Sicht?“. Dort heißt es: „Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (44) selbst hatte bereits Zugeständnisse für Verhandlungen angedeutet: Er beharre nicht mehr auf den Nato-Beitritt seines Landes, sagte er dem US-Sender ABC. Und auch zu einem ‚Kompromiss‘ um die Krim und die abtrünnigen Provinzen im Donbass sei er bereit. ‚In jeder Verhandlung ist mein Ziel, den Krieg mit Russland zu beenden‘, so Selenskyj zu BILD.“)
Laut der Ukraine haben die Massaker von Butscha, die die Russen verübten, zum Ende der Verhandlungen geführt.
Bei den Gesprächen mit Umjerow am 7. und am 13. März war von Butscha noch nichts bekannt. Ich glaube, die Amerikaner haben den Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland nicht gewollt. Die Amerikaner glauben, man kann die Russen klein halten. Nun ist es so, dass zwei Akteure, China und Russland, die eingegrenzt werden von den USA, sich zusammentun. Die Amerikaner glauben, stark genug zu sein, um sowohl die eine wie auch die andere Seite in Schach zu halten. Nach meiner bescheidenen Meinung ist das ein Irrtum. Man muss sich doch nur anschauen, wie zerrissen die amerikanische Seite nun ist. Schauen Sie sich das Chaos im Kongress an.
Die Amerikaner haben sich überschätzt?
Davon gehe ich aus.
Glauben Sie, dass man Ihren Friedensplan wieder aufnehmen kann?
Ja. Und die einzigen, die das anstoßen können, sind Frankreich und Deutschland.
Aber wie kann man den Russen trauen? Im Januar 2022 hieß es noch, die Russen wollen keinen Krieg mit der Ukraine. Dann, als die Russen in den Donbass einmarschierten, hieß es, die Russen wollen nicht nach Kiew. All diese Versprechen wurden gebrochen. Wieso sollte man nicht Angst haben, dass die Russen immer weitergehen?
Wir haben keine Bedrohung. Diese Angst davor, dass die Russen kommen, ist absurd. Wie sollen die denn die Nato besiegen, geschweige denn Westeuropa besetzen?
Nach Kiew sind sie fast gekommen.
Was wollen die Russen? Status quo in Donbass und Krim. Mehr nicht. Ich halte es für eine fatale Fehlentscheidung, dass Putin den Krieg begonnen hat. Dabei ist mir klar, dass Russland sich bedroht fühlt. Schauen Sie: Die Türkei ist Nato-Mitglied. Es gibt Raketen, die direkt Moskau erreichen können. Die USA wollten die Nato an die russische Westgrenze bringen, mit der Ukraine als Neumitglied etwa. All das fühlte sich für die Russen als Bedrohung an. Da sind auch irrationale Gesichtspunkte dabei. Das will ich nicht bestreiten. Die Russen haben mit einer Mischung aus beidem reagiert: Angst und Vorwärtsverteidigung. Deswegen muss niemand in Polen, im Baltikum, schon gar nicht in Deutschland – alles Nato-Mitglieder übrigens – sich in Gefahr wähnen. Die Russen würden mit keinem Nato-Mitglied einen Krieg anfangen.
Gut, aber dann heißt das auch in dieser Logik: Es droht keine Eskalation, dann können wir auch weiter Waffen liefern, wenn die Russen uns nicht angreifen werden.
Wenn man das mit einem Angebot verbindet, kann man das machen. Wir Deutschen haben ja auch viel geliefert – zur Freude der amerikanischen und deutschen Rüstungsindustrie. Warum haben Scholz und Macron die Waffenlieferungen aber nicht mit einem Gesprächsangebot verbunden? Macron und Scholz sind die Einzigen, die mit Putin reden können. Chirac und ich haben das im Irakkrieg auch getan. Wieso kann man die Unterstützung der Ukraine nicht mit einem Gesprächsangebot an Russland verbinden? Die Waffenlieferungen sind doch keine Lösung für die Ewigkeit. Doch sprechen will niemand. Alle sitzen in Schützengräben. Wie viele Menschen müssen noch sterben? Es ist ein bisschen wie im Nahen Osten. Wer sind die Leidtragenden auf der einen und auf der anderen Seite? Arme Menschen, die ihre Kinder verlieren. Keiner von den Leuten, auf die es ankäme, rührt sich. Der Einzige, der irgendetwas hinbekommen hat, obwohl er immer diffamiert wird, war Erdogan mit seinem Getreideabkommen. Das treibt mich wirklich um.
Die Frage bleibt, ob Putin überhaupt verhandeln will. Kreml-Insider sagten uns, dass Putin durchaus Kiew erobern wollte, aber Russlands Fähigkeiten überschätzt hätte.
Das weiß ich nicht. Schauen Sie mal: Es gibt zwei Leute, die in Moskau wichtig sind. Putin, der Wichtigste, und Medwedew. Letzterer hat einen ganz eigenen Einfluss in die russische Gesellschaft. Er ist Stellvertretender Vorsitzender des Russischen Sicherheitsrats. Im Westen will es niemand hören: Egal, wer an der Macht ist, in Russland existiert die Überzeugung, dass der Westen sich mit der Nato weiter ausbreiten will, und zwar in den postsowjetischen Raum. Stichwort: Georgien und Ukraine. Das wird niemand, der an der Spitze Russlands steht, zulassen. Diese Gefahrenanalyse mag emotional sein, aber sie ist in Russland real. Der Westen muss das verstehen und entsprechend Kompromisse akzeptieren, sonst wird Frieden schwer erreichbar sein.
Haben Sie den Eindruck, es gibt zu viel Moral in der Politik und zu wenig Realpolitik?
Das ist das Problem der Grünen. Ich verstehe die Moralisierung der Grünen nur bedingt. Außenministerin Baerbock moralisiert gegenüber China und Russland, okay. Dabei vergisst sie, dass Deutschland zu den beiden ein vernünftiges Verhältnis braucht, ohne dass damit der Krieg gegen die Ukraine nicht zu verurteilen ist.
Steht Außenministerin Annalena Baerbock in der Tradition von Joschka Fischer?
Joschka war viel rationaler. Er war Realpolitiker. Er hätte Xi Jinping nicht als Diktator bezeichnet. Warum provoziert die Außenministerin in einer solchen Situation, wenn man genügend andere Probleme hat?
Hat das reale Konsequenzen für die Beziehungen?
Nein, noch nicht. Aber die Asiaten sind nachtragend, irgendwann platzt das. Asiaten wollen das Gesicht nicht verlieren. Für China war Baerbocks Aussage peinlich. Die Chinesen wollen eine Zusammenarbeit mit Deutschland, weil die beiden Länder weniger historisch belastete Beziehungen haben. Baerbock wird mit ihrer Moralisierung auch innenpolitisch nicht reüssieren, aber Deutschland und der deutschen Wirtschaft schadet sie damit. Es muss unserem Land gut gehen, sonst handeln wir gegen Menschen, die darauf angewiesen sind. Es gilt der Satz: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, fällt für jeden was ab.“ Das weiß der SPD-Wähler sehr genau.
Man könnte auch sagen: Baerbock ist durchaus Realistin. Sie will mit ihrem Kurs den Amerikanern schmeicheln, unserem wichtigsten Verbündeten.
Das mag richtig sein. Ich habe gesagt: Wir müssen das Bündnis intakt halten, aber nicht um jeden Preis. Wir haben eine weitgehend souveräne Außenpolitik betrieben. Das haben wir heute so nicht mehr.
Dafür schützen uns die Amerikaner.
Aber Schutz wofür? Glauben Sie ernsthaft, dass nach dem Desaster, das die Russen in der Ukraine mit ihrem Krieg erleben, die jetzt darüber nachdenken, Westeuropa anzugreifen?
Die Polen fühlen sich real bedroht.
Das ist etwas anderes. Seitdem sie in der Nato sind, sind sie nicht mehr bedroht. Kein Mensch in Russland denkt ernsthaft darüber nach, in einen Konflikt mit der Nato zu kommen.
Putin hat zu oft sein Wort gebrochen.
Wo?
Sei es, dass er gesagt hat, er würde die Ukraine nicht angreifen.
Ich habe so eine Versicherung nie erhalten.
Ihre Freundschaft zu Wladimir Putin, dem nun offiziell in Den Haag Kriegsverbrechen angelastet werden, sorgt für Empörung. Müssten Sie deshalb nicht emotional auf Distanz zu ihm gehen, auch weil Putin Ihr Erbe und das der Kanzlerin, die deutsch-russische Freundschaft, zerstört hat?
So funktioniert das Zusammenleben nicht. So funktionieren menschliche Beziehungen nicht. Was Putin angeordnet hat, halte ich für falsch. Das habe ich öffentlich gesagt. Das muss ich auch nicht ständig tun. Es gibt Beziehungen zwischen Menschen, die unterschiedlicher Ansicht sind. Das ist in meinem Fall mit Wladimir Putin so. Das zweite ist eine politische Frage. Russland bleibt Russland. Egal, wer es wie regiert. Deutschland hat ein Interesse daran, ökonomisch und politisch eine Beziehung zu Russland aufrechtzuerhalten, auch wenn das schwerfällt. Das haben wir mit vielen Staaten; mit China, mit der Türkei. Wenn Politik reduziert wird auf das Emotionale wie bei den Grünen und Annalena Baerbock, dann ist das falsch.
Die westliche Ordnung wackelt. Ist es nicht so, dass gerade jetzt die Amerikaner verständlicherweise sagen: „Bitte, Deutschland, keine Kooperation mit China und Russland. Wir geben euch die Sicherheit! Also bitte Distanz halten.“
Nein, das ist nicht so. Die ökonomischen Beziehungen der Amerikaner zu den Chinesen sind doch viel bedeutender als unsere, zu Russland im Übrigen auch. Es gibt einen Haufen amerikanischer Unternehmen, die in Russland nach wie vor aktiv sind. Das stört die amerikanische Regierung überhaupt nicht. Die macht ihr eigenes Ding. Und Ökonomie ist Ökonomie. Wir sind diejenigen, die das, was die Amerikaner wollen, politisch vollstrecken. Die Amerikaner selbst tun das aber nicht.
Ist der Unterschied zwischen veröffentlichter Meinung und der Meinung der Mehrheit der Menschen im Land gewachsen?
Ja, sicher. So groß war die Kluft zwischen der Meinung der Menschen auf der Straße und den öffentlich geführten Debatten noch nie.
Ist die AfD deshalb in allen Umfragen stärker als die SPD?
Die AfD sagt: Es interessiert uns nicht, was staatspolitisch geboten ist. Die Menschen sagen: Denkt doch an uns. Das macht immer mehr Strecke. Wenn wir heute Bundestagswahl hätten, wäre die SPD wahrscheinlich nicht mehr in der nächsten Regierung.
Haben die Menschen recht?
Natürlich haben die recht. Scholz sagt den Doppelwumms an und gibt 100 Milliarden für die Rüstung aus, wo doch niemand weiß, was das eigentlich ist. Sind das Panzer? Flugzeuge? Artillerie? Und wer kriegt die Aufträge? Das wird die Debatte nach dem Krieg sein. Gleichzeitig sehen die Menschen, wie die Infrastruktur verkommt und wie ihre Möglichkeiten reduziert werden. Ein großer Fehler war, dass Scholz das Heizungsgesetz von Robert Habeck durchgelassen hat, ohne zu wissen, was das für einen normalen Haushalt bedeutet. Und dann gibt es eine Partei, die sagt: „Erst einmal wir!“ Diese Menschen wählen dann AfD.
Sahra Wagenknecht deckt viele der Punkte ab, die Sie ansprechen, und bietet nun eine Alternative für die einfachen Leute.
Das ist richtig. Eine kluge Frau. Sie weiß, wie ganz normale Leute denken. Glaubt sie aber ernsthaft, ihre Partei kann eine Rolle spielen? Ich denke, sie wird der Linken ein paar Prozentpunkte wegnehmen.
Wenn Sie, Herr Schröder, eine Partei gründen würden, könnte das ein Erfolg werden?
Das habe ich nicht vor.
Sie könnten sich ja mit Wagenknecht zusammentun.
Nein, das mache ich nicht. Selbst wenn ich mich ärgere über meine Partei: Ich bin seit 1963 Sozialdemokrat. 60 Jahre. Das bleibe ich auch. Egal, ob mir die Führung gefällt oder nicht. Und sie gefällt mir nicht. Doch das ist nicht das Problem. Wenn man mal Geschichte liest: Wer ist in Deutschland der Garant für Demokratie in den letzten 150 Jahren gewesen? Die Sozialdemokratie.
Wir denken: Olaf Scholz ist mehr Schröderianer, als er zugeben würde.
Das mag sein. Es geht hier um Loyalitäten, die abstrakt und wenig rational sind. Aber Frau Faeser ist nicht der Grund, warum Menschen die SPD nicht wählen. Das Gesamtbild ist es. Sie ist ein Teil davon, das gebe ich zu. Wenn Sie eine Regierung führen, die sich dauernd streitet: Das ist das, was die Leute nicht wollen. Warum sind in der Weimarer Republik so viele verunsicherte Leute zu den Nazis gelaufen? Das waren nicht diejenigen, die Völkermord propagiert haben, sondern Arbeit und Sicherheit. Wenn die SPD nicht begreift, dass sie sich auf die Kernthemen fokussieren muss, dann haben wir ein Problem. Gendern? Kann man machen, wenn wirtschaftlich alles in Ordnung ist. Wenn es eng wird und die Mehrheit der SPD-Wähler das Gefühl hat, die kümmern sich um Randthemen und nicht um Ausbildung, Wohnen und Arbeit, dann wird es eng.
Ist die AfD eine Gefahr für die Demokratie?
Ich kann mit denen gar nichts anfangen, die AfD hat dumme Ideen. Aber sie sind keine Gefahr. Solange sie wahrnehmbar sind und in den Parlamenten, wo sie kritisch befragt werden können, sind sie weniger eine Gefahr, als wenn sie nicht sichtbar wären. Solche Leute neigen zu Geheimbünden. Wenn das zu viel wird, haben wir ein Problem. Deutschland ist eingebunden in die EU und in die Nato. Das schützt uns vor den Gefahren, dass die AfD zu einer Partei werden kann, wie es die Nazis waren.
Der Treiber der AfD ist die Migration. Mittlerweile sagen selbst Bundespräsident Steinmeier und Kanzler Scholz, die Zahlen der Migranten müssten runter.
Ja, das stimmt. Hauptproblem ist, dass die Parteien immer noch moralische Überlegenheit zeigen wollen. Das reicht nicht als Handlungsmotivation für Politik. Migration muss man begrenzen, das ist gar keine Frage. Natürlich ginge das am besten, wenn man es europäisch machen könnte. Ich bin der Meinung, dass man die Osteuropäer zur Aufnahme drängen muss unter der Androhung von finanziellen Konsequenzen durch die EU. Es gibt einen Mangel an europäischer Koordination. Es muss eine vernünftige Verteilung geben. Wir, die wir hier sitzen, wir konkurrieren doch nicht wirklich um eine Wohnung. Diejenigen, die sich wirklich bedroht fühlen, sind die klassischen SPD-Wähler.
Sind die Probleme der Masseneinwanderung lösbar?
Ja, sie sind lösbar. Man muss im Ausland schon schauen, wer reindarf. Und ein Teil der Unterstützung müsste in Sachleistungen bezahlt werden. 2015 hat Merkel vielleicht moralisch das Richtige getan, politisch war es ein Fehler. Wir haben es nicht geschafft, die Dimension des Problems der Integration anzuerkennen und zu lösen.
Also muss ein Politiker manchmal Entscheidungen treffen, die gegen das eigene moralische Verständnis verstoßen?
Ja, das war bei mir die Agenda 2010 und Afghanistan. Die Entscheidung gegen den Irakkrieg war für mich emotional einfach, weil ich entschieden habe, keine Soldaten in den Krieg zu schicken. Aber als ich gesagt habe: Jetzt gehen wir nach Afghanistan. Das war für mich schwierig.
Gibt es Kritik, die Sie trifft?
Jede Kritik trifft einen. Man fühlt sich bei Kritik nicht sehr wohl. Aber im Job muss man das lernen, die Gewissheit haben, man kriegt was aufs Dach. Als richtig gut gelten Politiker aber erst, wenn sie nicht mehr im Amt sind.
Sie sind Verwaltungsratspräsident der Nord Stream 2 AG. Sind sie auch weiterhin dafür, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen?
Ja. Das wäre vernünftig, unter preislichen Gesichtspunkten. Beide Leitungen wären reparierbar.
Haben die USA Nord Stream gesprengt?
Ich weiß es wirklich nicht. Es gibt nur einen Hinweis: Biden hat Scholz Anfang 2022 gesagt, dass Nord Stream nicht in Betrieb gehen kann, wenn Russland die Ukraine angreift. Daraus kann jeder seine Schlüsse ziehen.
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