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„Hitler war alles andere als ein Genie“
Historiker Richard Overy zum Zweiten Weltkrieg
Interview von Marc von Lüpke
07.11.2023 – 12:49 Uhr
Der Zweite Weltkrieg begann 1939, Adolf Hitler war eine Art Mastermind, der den Konflikt zielstrebig herbeiführte – so lauten verbreitete Ansichten. Historiker Richard Overy widerspricht.
Russland bekriegt die Ukraine und fordert die westlichen Staaten heraus, im Nahen Osten führt Israel Krieg gegen die terroristische Hamas. Der Konflikt könnte sich ausweiten. Wie vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eskalieren Krisen und überlagern sich. Richard Overy ist Experte für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, gerade hat er mit „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ ein Buch zu diesem globalen Konflikt auf Deutsch veröffentlicht. Im Gespräch erklärt der britische Historiker, welche Lehren aus der Vergangenheit Gültigkeit haben, wieso Adolf Hitler alles andere als ein Genie gewesen ist und welche Rolle der Imperialismus beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs spielte.
t-online: Professor Overy, Sie sind einer der besten Kenner der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Hätten wir angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine die Lehren der Vergangenheit besser beachten sollen?
Richard Overy: Wir erleben gegenwärtig eine scharfe ideologische Konfrontation zwischen den westlich geprägten Staaten und autoritären Mächten. Staaten wie Russland, China und Iran ignorieren Menschenrechte und die derzeitige globale Ordnung, davor haben sie keinerlei Respekt. Dieser Zustand ist eine Parallele zu den Dreißigerjahren, als Deutschland, Italien und Japan die damals bestehende Ordnung attackierten. Dass autoritäre Mächte Kriege zur Erzwingung ihrer Ziele führen, ist wiederum eine Tatsache, die in unserer Gegenwart Bestand hat. Wenn diese Lehre beherzigt worden wäre, hätte uns Wladimir Putin nicht derart überraschen können.
Wie stehen die Aussichten, dass die seit Ende des Zweiten Weltkriegs etablierte liberale Weltordnung amerikanischer Prägung Bestand haben wird?
Deutschland, Italien und Japan einte in den Dreißigerjahren der radikale nationalistische Glaube, dass man die Welt verändern könnte – zu ihren Gunsten selbstverständlich. Damals erwies sich dies als eine Illusion, heute wird Putin vielleicht Erfolg haben. Ob die gegenwärtige Weltordnung Bestand haben wird, lässt sich aber schwer einschätzen. Zumindest im Augenblick ist sie sehr instabil, ähnlich wie vor rund 85 Jahren. Unsicherheit und Furcht sind wieder dominant.
Betrachten wir einmal die Dreißigerjahre: In Ihrem neuen Buch „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ schreiben Sie, dass der „Zweite Weltkrieg ein Resultat von Entscheidungen“ gewesen wäre, „die in London und Paris getroffen wurden, nicht in Berlin.“ Aber es war doch ohne jeden Zweifel das nationalsozialistische Deutschland, das 1938 in Österreich einmarschierte, im gleichen Jahr Prag besetzte und am 1. September 1939 dann Polen überfiel?
Auf keinen Fall will ich die Schuld Hitlers und der Deutschen am Zweiten Weltkrieg relativieren oder sie gar davon freisprechen. Ich plädiere aber für eine objektive Betrachtung der Umstände, die zum Ausbruch des Konflikts geführt hatten – und da spielen Großbritannien und Frankreich eine entscheidende Rolle.
Das müssen Sie näher ausführen.
Hitler war alles andere als ein Genie, auch wenn er teilweise so beschrieben wird. Bis in die Gegenwart findet sich die Darstellung, dass er als eine Art Strippenzieher die Weichen bis hin zum Kriegsausbruch 1939 gestellt habe. Tatsächlich war Hitler oft ahnungslos und reagierte mehr auf die Westmächte Großbritannien und Frankreich, als dass er selbst agierte. Wenn es dann ernst wurde, war Hitler unsicher und zögerlich. Vor dem Anschluss Österreichs 1938 musste ihm Hermann Göring beispielsweise erst einmal den Rücken stärken.
Während der sogenannten Sudetenkrise, die Ende September 1938 im „Münchner Abkommen“ mit der Abtretung des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei an das Deutsche Reich kulminierte, war Hitler dann enttäuscht: Durch die Intervention der Westmächte wurde ihm der von ihm erhoffte „kleine“ Krieg gegen das Nachbarland „verwehrt“, wie Sie schreiben.
Der britische Premier Neville Chamberlain hatte Hitler im Vorfeld seiner Reise nach München eine Warnung bezüglich der Gefahr eines Weltkrieges zukommen lassen. Das hat mächtig Eindruck auf Hitler gemacht.
Aber nicht so viel, dass Deutschland von der Tschechoslowakei abgelassen hätte. Im März 1939 schritt Hitler unter Missachtung des Münchner Abkommens zur „Zerschlagung der Rest-Tschechei“, dann wandte er sich Polen zu.
Hitler wollte Krieg, daran besteht kein Zweifel. Aber er wollte eben zunächst einen „kleinen“ Krieg. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen hat er dann allerdings eine Linie überschritten. In London und Paris war man mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, dass nun fortgesetzt werden müsse, was 1918 offensichtlich nicht zu Ende geführt worden war.
Deutschland ohne jeglichen Zweifel zu besiegen?
Darauf lief es hinaus, ja.
Warum aber schritten Großbritannien und Frankreich nicht früher offensiv gegen das nationalsozialistische Deutschland ein? Lange Zeit konnte Hitler Erfolg für Erfolg verzeichnen und seinen Nimbus als eine Art Mastermind aufbauen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass London und Paris damals gewaltige überseeische Imperien beherrschten. Diese Weltreiche befanden sich allerdings auf dem absteigenden Ast, es gab massive Sicherheitsprobleme, die die Bereitschaft zum Krieg in Europa geschmälert haben. Erst recht, nachdem sich beide Staaten nur langsam von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise seit 1929 erholt haben. Es war ein schwieriger Balanceakt, den Großbritannien und Frankreich betrieben. Später nannte man diese Art der Politik gegenüber Deutschland „Appeasement“, „Beschwichtigung“, aber tatsächlich war es eine Strategie der Risikovermeidung.
Das Risiko vergrößerte sich aber doch, indem London und Paris Hitler immer wieder Zugeständnisse machten? Deutschland war am Vorabend des Zweiten Weltkrieges weit größer und mächtiger als etwa 1936.
Aus der Retrospektive betrachtet, ist dieser Schluss richtig. Aber in der damaligen Situation versuchten die Politiker in Großbritannien und Frankreich, den Krieg zu verhindern. Der Begriff Appeasement ist meiner Meinung nach wenig geeignet, um dies zu beschreiben, ich bezeichne es lieber als „Containment“ und „Deterrence“, also „Eindämmung“ und „Abschreckung“. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es sich bei Großbritannien und Frankreich um Demokratien handelte – die sich mit Kriegen aus guten Gründen schwerer tun als autoritäre Regime. Beide Staaten versuchten sich an der Quadratur des Kreises: Sie wollten trotz zunehmender internationaler Instabilität ihren imperialen Status quo bewahren. Das erwies sich dann als der Weg in den Weltkrieg.
Die Schuld für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges liegt aber doch ohne jeden Zweifel bei Deutschland.
So ist es. Ich bin kein Revisionist von rechts. Hinweisen möchte ich aber auf eine Tatsache: Großbritannien und Frankreich war Anfang September 1939 bewusst, dass der Krieg ein Weltkrieg sein würde, der ihre imperialen Interessen auf dem gesamten Globus tangierte. Mehr noch: Man war sich im Klaren darüber, dass der kommende Krieg ein „totaler“ wäre. Deutschland, Italien und Japan war diese Erkenntnis so zunächst nicht gekommen.
Deutschland war durch seine Aufrüstungs- und Annexionspolitik zu einer bedrohlichen Macht in Mittel- und Osteuropa avanciert, Italien hatte das Völkerbundsmitglied Abessinien erobert, während Japan seit 1931 Krieg gegen China führte. Alle drei Mächte hätten demnach aufgrund ihrer aggressiven Politik die Wahrscheinlichkeit eines Weltkriegs trotzdem ausgeschlossen? Wie kann das sein?
Hitler hielt größere Konflikte in der Zukunft für möglich – etwa mit der Sowjetunion. Aber ein Weltkrieg wegen Polen im September 1939? Damit hatte Hitler überhaupt nicht gerechnet. Großbritannien und Frankreich hielten die Ambitionen der drei „Unruhestifter“ für eine Fortsetzung des alten Strebens nach Großmachtshegemonie, dagegen wollten sie sich wehren. Tatsächlich betrachteten die Führer Deutschlands, Italiens und Japans den Krieg im imperialen Zeitalter aber für ein notwendiges Mittel, um sich regionale Vorherrschaft zu sichern.
Was auch die Zertrümmerung der nach dem Ersten Weltkrieg etablierten Weltordnung bedeutete.
Für Adolf Hitler, Benito Mussolini und das nach Expansion strebende japanische Militär beruhte die nach Ende des Ersten Weltkriegs installierte globale Ordnung auf den Wünschen und Zielen der alten imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich wie der USA. Wie sollten sie diese Ordnung nun aber demontieren und ihr anti-westliches Programm verwirklichen? Darüber herrschte Unsicherheit, sie fürchteten sich vor möglichen Reaktionen Großbritanniens und Frankreichs. Hitler schaute immer wieder nervös über die Schulter, wenn er eine neue Stufe der Aggressivität einleitete.
Was ihn aber nicht davon abhielt.
Nein, ebenso wenig wie die Japaner vom Einmarsch in die chinesische Mandschurei 1931. Weshalb ich mein Buch übrigens in diesem Jahr beginnen lasse, denn dieses damals beginnende Aufbäumen des Imperialismus war handlungsleitend auch für Hitler in Deutschland und Mussolini in Italien.
Sie schreiben, dass der Wunsch nach einem eigenen Imperium bestimmend war für ihre aggressive Politik.
Wir müssen die damaligen politischen und wirtschaftlichen Umstände betrachten, um die Denkweise Hitlers zu verstehen. Es war eine Zeit ungeheurer Unsicherheit, der Hitler den Aufbau eines eigenen deutschen Imperiums mit einem damit verbundenen Wirtschaftsblock entgegenstellen wollte. Für Italien und Japan trafen ähnliche Überlegungen zu. Mit einer derartigen geopolitischen Revolution wollten sie ihr Überleben angesichts der globalen Lage sicherstellen. Dabei gedachte etwa Hitler den Machtkampf mit Großbritannien am liebsten zu vermeiden: London hätte demnach sein Weltreich durchaus behalten können, nur wollte ihm der deutsche Diktator mit einem eigenen Imperium etwas entgegenstellen.
Dazu wollte sich Hitler mit Gewalt „Lebensraum“ nehmen.
Richtig. Im November 1937 formulierte Hitler deutlich seine Forderung nach „Lebensraum“. Er dachte dabei schon an die Endabrechnung mit der Sowjetunion, wo eben dieser „Lebensraum“ hauptsächlich erobert werden sollte. Es war der nächste Schritt in seinem ideologischen Konstrukt: Japan hatte zuvor große Teile Chinas erobern können, Italien verleibte etwa ungestraft Abessinien seinem Kolonialreich ein und Deutschland „schluckte“ Österreich und den größten Teil der Tschechoslowakei – diese Erfolge waren eine ungeheure Ermutigung für Hitler bei der Verfolgung seiner langfristigen Ziele.
Die Eroberung von „Lebensraum“ war in der nationalsozialistischen Ideologie untrennbar mit dem Rassismus verbunden. Vor allem den Juden galt Hitlers grenzenloser Hass. Welche Rolle spielte der Rassenwahn bei der Entfesselung des Krieges?
Die Nationalsozialisten konnten ihren Antisemitismus mit der wachsenden Abneigung der deutschen Bevölkerung gegen den Westen ebenso wie dem Hass auf den Kommunismus bestens verbinden. Im kommunistischen Moskau würden angeblich Juden ebenso die Strippen gegen Deutschland ziehen wie im westlichen Paris, London oder Washington, D.C. So hieß es. Die Eskalation des Rassenwahns endete dann vor allem in den schrecklichen Verbrechen gegen Juden und andere Minderheiten bei der Eroberung von „Lebensraum“ im Osten.
Nun konnte Hitler nach Kriegsausbruch in Europa von den beiden Großmächten lediglich Frankreich besiegen, Großbritannien trotzte ihm weiterhin. Gleichwohl griff die Wehrmacht 1941 die Sowjetunion an. Hatte Hitler den Bezug zur Realität verloren?
Hitler war durchaus zurechnungsfähig. Er rechnete mit einem Erfolg, anfangs sah es durchaus auch danach aus.
Eine provokante Frage: Was wäre gewesen, wenn Hitler, Mussolini und die japanischen Militärs nicht durch Annexionen und Kriege die Machtprobe mit den westlichen Mächten gesucht hätten?
Dies berührt eine grundlegende These meines Buches: Um die Entstehung des Zweiten Weltkriegs im längeren Kontext zu verstehen, dürfen wir nicht nur die deutschen Ressentiments wegen des verlorenen Ersten Weltkriegs oder den Aufstieg Hitlers betrachten. Nein, das damalige Aufkommen des Imperialismus ist ganz entscheidend. Tatsächlich hätten London und Paris Hitler, Mussolini und die Japaner toleriert, wenn sie nicht derart aggressiv aufgetreten wären. Genau wie wir heute einige ziemlich unsympathische Regime hinnehmen.
Sie beschreiben den Zweiten Weltkrieg als „letzten imperialen Krieg“. Wie klassifizieren Sie den aktuellen russischen Krieg gegen die Ukraine?
Putin macht etwas absolut Schreckliches. Er führt aber keinen imperialen Krieg, sondern einen irredentistischen: In seiner Gedankenwelt will er die Ukraine Russland einverleiben, sie „erlösen“.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor mehr als 30 Jahren herrschte Euphorie, ein Zeitalter der Demokratie schien anzubrechen. Heute herrschen weltweit Unsicherheit und Furcht. Hat die Geschichte nicht eine Lehre für uns parat?
Diese Frage wird mir oft gestellt. Der damalige Optimismus war tatsächlich völlig verfehlt – so viel ist klar. Tatsächlich waren die Bedingungen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts aber andere als die, mit denen wir heute konfrontiert sind. Ich kann daher nur eine Erkenntnis mitgeben: Es gibt keine einfachen Lösungen, um die Welt zu einem friedlichen Ort zu machen. Denn Kriege erzeugen Kriege. Leider neigen die Menschen dazu, dies zu vergessen.
Richard Overy, Jahrgang 1947, ist gegenwärtig Honorarprofessor an der University of Exeter in Großbritannien. Overy ist einer der führenden Experten für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, den er seit Jahrzehnten erforscht. Der Historiker hat zahlreiche Bücher verfasst, kürzlich erschien sein neuestes Werk „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ auf Deutsch.