Kampf um Rohstoffe (ntv)

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Der Krieg gegen die Ukraine ist für Russland ein Kampf um Rohstoffe
Von Christoph Brumme, Poltawa
23.06.2024, 08:22 Uhr

Im Westen wird der Krieg häufig als Verlustgeschäft für Russland gesehen. Das ist nicht die russische Perspektive. In diesem Krieg geht es um Rohstoffe. Und um die Zukunft: Russland kann der Ukraine mehr rauben, als es im Frieden verlieren würde.

Es bleibt ein Rätsel, weshalb im Westen Russlands ökonomische und materielle Interessen nicht als entscheidender Kriegsgrund erkannt werden. Bevor man über angebliche oder tatsächliche russische Sicherheitsinteressen diskutiert, sollte man sich erst einmal Russlands ökonomische Gewinn- und Verlustrechnung ansehen, um zu verstehen, was da gesichert werden soll.

Offensive im Norden stockt „Russland hat nicht erreicht, was es vorhatte“

Russlands wirtschaftliche Verluste durch den Krieg und die Sanktionen des Westens sind einigermaßen bekannt. Sie werden nach Einschätzung von US-Vizepräsidentin Kamala Harris bis 2025 voraussichtlich rund 1,3 Billionen Dollar betragen. Die direkten finanziellen Aufwendungen für die Durchführung der „Spezialoperation“ werden derzeit auf etwa 250 Milliarden Dollar geschätzt. Obwohl diese Verluste nicht eingeplant waren, stehen auf Russlands Haben-Seite derzeit aber weit höhere, wenn auch nur vorläufige Zugewinne.
Blutige Schlachten um „weißes Gold“

In Frontberichten insbesondere aus dem Donbass sieht man verwüstete Wälder und zerstörte Dörfer, aber nicht die Schätze im Boden. Dabei sind diese oft der Grund für die Schlachten. So versuchen die Russen seit mehr als zwei Jahren, die ukrainische Kleinstadt Kurachowe zu erobern, wo Lithium im Wert von Hunderten Milliarden Dollar in der Lagerstätte Schewtschenko liegt.

Ohne Lithium aus China steht Europa so gut wie blank da

Siegesgewiss haben die Besatzer in Donezk bereits am 10. Januar 2024 „Genehmigungsdokumente“ für die Lithium-Förderung in der Region nach Moskau geschickt, an das Ministerium für natürliche Ressourcen und Ökologien der Russischen Föderation.

Die ukrainische Regierung hatte wenige Wochen vor Beginn der russischen Invasion im Dezember 2021 dem australischen Unternehmen European Lithium die Förderrechte für dieses Vorkommen erteilt. Die Bewerbung des chinesischen Unternehmens Chengxin Lithium war damals abgewiesen worden. Das australische Erschließungsunternehmen will laut eigenem Anspruch „der erste Lieferant für batteriefähiges Lithium in einer vollständig integrierten europäischen Batterieversorgungskette sein“. Im Sommer 2023 erklärte der Vorstandsvorsitzende von European Lithium, Tony Sage, dass das Unternehmen keinen Anspruch mehr auf das Schewtschenkowskoje-Feld erhebe – es liege zu nahe an der Front.

Ohne Lithium haben wir ein Problem

Lithium wird als Material, „aus dem die Zukunft gemacht ist“, als „weißes Gold“ und „Öl des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Es ist ein Metall der Superlative, das leichteste des Periodensystems, mit dem höchsten elektrochemischen Potenzial und der höchsten spezifischen Wärmekapazität von Feststoffen. Mit der Lithium-Ionen-Technologie sollen die Energiewende und die Elektromobilität bewerkstelligt werden.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte in einer Rede Ende März 2024 vor der großen Lithium-Abhängigkeit der Europäer von der Volksrepublik China, 97 Prozent importiere man von dort. „Batterien, die unsere Elektroautos antreiben, werden den Bedarf an Lithium bis 2050 um das 17-Fache steigen lassen“, sagte von der Leyen. Sollte der Export von Lithium durch China limitiert werden, „dann haben wir wirklich ein Problem“, warnte Wirtschaftsminister Robert Habeck im Juli 2023.

Mithilfe des ukrainischen Lithiums könnte die Europäische Union ihre Abhängigkeit von chinesischen Zulieferern stark verringern, denn laut dem Nationalen Verband der Rohstoffförderer in der Ukraine (NEIAU) entfällt ein Drittel der erkundeten Lithium-Vorkommen in Europa auf die Ukraine. An einer vollständigen wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den Westen und einer Gewährleistung der territorialen Integrität der Ukraine kann China deshalb kein ökonomisches Interesse haben. Das sollten „Verhandlungsbefürworter“ im Westen bedenken, die in China einen potenziellen Vermittler zwischen den Kriegsparteien sehen.

Russlands Kriegsbeute

Eine Studie des kanadischen Thinktanks SecDev kommt zu dem Ergebnis, dass Russland in den besetzten Gebieten der Ukraine Energievorkommen, Metalle und Mineralien im Wert von mindestens 12,4 Billionen Dollar kontrolliert, darunter 41 Kohlefelder (63 Prozent der ukrainischen Kohlevorkommen), 27 Erdgasfelder, neun Ölfelder, sechs Eisenerzlagerstätten, zwei Titanerzlagerstätten, eine Strontium- und eine Uranlagerstätte, eine Goldlagerstätte und einen großen Kalksteinbruch. Der Gesamtwert der nationalen Rohstoffbestände der Ukraine wird auf über 26 Billionen Dollar geschätzt.

Auf diese Einschätzung der Kanadier bezog sich auch der russische Generalmajor Wladimir Owtschinski, ein ehemaliger Chef der russischen Interpol, im August 2022 in seinem Artikel „Lithium und der Tod“. In typisch russischer Schuldumkehr behauptete General Owtschinski, jetzt sei „die Zeit für amerikanische Kriege um das ‚weiße Gold‘ gekommen“. Nur Russlands Eingreifen habe „die direkte Beschlagnahme von Lithium-Vorkommen verhindert“.

Der im Exil lebende russische Schriftsteller Eduard Topol kommentierte dies mit den Worten, damit sei klar, warum Putin in die Ukraine einmarschiert sei: Bei der „militärischen Sonderoperation“ handele es sich in Wahrheit um eine „Spezialoperation zur Beschlagnahme von ukrainischem Lithium“. Putin habe damit Europa treffen wollen: Wenn Europa seinen Konsum von Öl reduziere, müsse es mit Lithium in den Würgegriff genommen werden, beschrieb Topol Putins Position.

Russland kann im Krieg mehr rauben, als es im Frieden verlieren würde

Wenige Monate vor dem Beginn der russischen Invasion hatten die EU und die Ukraine einen „Green Deal“ unterzeichnet, ein nahezu revolutionäres Transformationsprogramm für die Ukraine. Die ukrainische Volkswirtschaft war die energieintensivste der Welt mit der ineffektivsten und teuersten thermischen Stromerzeugung. Nun sollte das Land bis zum Jahr 2060 Klimaneutralität erreichen. Die EU wollte eine Rohstoff- und Energieallianz mit Kiew begründen, denn die enormen Potenziale der Ukraine und die geografische Nähe machen sie zu einem natürlichen Partner der anderen Europäer.

„Die Ukraine verfügt nicht nur über riesige Flächen für den Ausbau der Windenergie und großes Potenzial für Photovoltaikanlagen, sie hat zudem auch einen besonderen Vorteil vorzuweisen: Die Infrastruktur, um grünen Wasserstoff nach Deutschland und damit in die EU zu transportieren“, erklärte Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena). 22 von 30 strategisch wichtigen Rohstoffen, deren Lieferung von der EU als kritisch eingestuft wird, können in großen Mengen in der Ukraine gewonnen werden, darunter Titan, Magnesium, Eisenerz, Kaolin, Mangan, Zirconium, Graphit und viele andere.

Doch Europas Klimaziele und die „grüne“ ukrainische Energie sind existenzielle Gefahren für Russlands Geschäfts- und Existenzmodell, den Verkauf fossiler Energien. Wirtschaftlich gesehen lohnt sich der Krieg für Russland durchaus, falls es seine Kriegsziele erreichen sollte. Denn durch Kriege kann Russland viel mehr rauben und gewinnen, als es im Frieden verlieren würde.

Quelle: ntv.de