Janina Sokolowskaja über ukrainische Politik

Janina Sokolowskaja: Falls Saluschnyj kandidiert, wird Selenskyj höchstwahrscheinlich verlieren
Die ukrainische Journalistin im Interview über die Sommeroffensive, die Korruption, Selenskyjs Standing in der Bevölkerung und die Aussichten auf Frieden.

Interview: Thomas Fasbender
25.11.2023 | 05:57 Uhr

„Die menschlichen Ressourcen sind begrenzt, der Krieg muss ein Ende haben“: Janina Sokolowskaja.
In der Ukraine ist die Journalistin Janina Sokolowskaja als entschiedene Kritikerin des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bekannt. Ihre investigativen Recherchen zu korrupten Strukturen waren der Anlass mehrerer Strafverfahren und parlamentarischer Untersuchungskommissionen. 2001 wurde sie Opfer einer Messerattacke, ausgelöst durch Berichte über Korruption im Umfeld ukrainischer Gasgeschäfte. Zugleich ist Sokolowskaja eine Wanderin zwischen den Welten, der russischen und der ukrainischen. In russischen TV-Talkshows hat sie die ukrainische Sichtweise so deutlich vertreten, dass die russische Staatsanwaltschaft im Juli 2023 ein Strafverfahren wegen Verunglimpfung der russischen Streitkräfte gegen sie eingeleitet hat. Höchststrafe: Zehn Jahre.
Frau Sokolowskaja, die Resultate der ukrainischen Sommeroffensive sind enttäuschend. Keine 20 Kilometer Raumgewinn, und auch das nur an wenigen Frontabschnitten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will dennoch von einem Patt nichts wissen.
Selenskyj äußert sich nicht zur Lage, weil er seinen Umfragewerten nicht schaden will. Ich glaube, die Militärs haben ihm erklärt, dass die Offensive ohne Luftüberlegenheit zum Scheitern verurteilt war. Schon zu Beginn war klar, dass der Westen die gewünschten Flugzeuge nicht liefert. Mit anderen Worten: Große Durchbrüche waren nicht zu erwarten. Das hat Selenskyj aber weder den Ukrainern noch dem westlichen Establishment gesagt.
Wie reagiert die ukrainische Politik?
Ein Großteil der politischen Klasse besteht weiterhin aus den Gefolgschaften der sogenannten Oligarchen. Insgesamt sind die Politiker eher unideologisch. Sie lavieren und versuchen, den künftigen starken Mann auszumachen und dann früh genug auf dessen Seite zu wechseln. Zugleich ist das Geschäft der Großunternehmer extrem vom Krieg betroffen. Die sind daher an einem schnellstmöglichen Ende der Feindseligkeiten interessiert.

Solange Selenskyj sich an der Macht hält, wird die Elite ihn unterstützen. Wenn seine Position aber ins Wanken gerät, wenden die Leute sich einem aussichtsreicheren Rivalen zu. Was den ideologischen Teil der politischen Klasse betrifft, besteht der entweder aus Rechtsradikalen, die aber derzeit weder über Finanzmittel noch Popularität verfügen, oder aus Anhängern des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko. Letztere stellen immerhin ein Viertel der Wählerschaft.

Beide Gruppen, die Rechtsradikalen und die Poroschenko-Anhänger, sprechen Selenskyjs Fehler und die mangelnde Professionalität seines Teams offen an. Sie fordern auch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Als Reaktion darauf versuchen die Staatsorgane, Vertreter beider Gruppen von Auslandsreisen und von Treffen mit westlichen Politikern fernzuhalten. Oder es werden Strafverfahren gegen sie eingeleitet.

Zugleich vermeiden alle politischen Kräfte, die Lage an der Front als Patt zu bezeichnen. Üblicherweise spricht man von einer erfolgreichen Rückkehr zu der Demarkationslinie, die sich bereits 2022 gebildet hat. Die typische Aussage eines ukrainischen Politikers wäre etwa: „Die Ergebnisse der Offensive lassen sich nicht in Kilometern messen, sondern in der Menge der zerstörten gegnerischen Ausrüstung.“

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleryj Saluschnyj, sagt nun, der Krieg entwickle sich zu einem Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg. Diese Aussage sorgt in Selenskyjs Umgebung für so viel Empörung, dass die Differenzen zwischen der Regierung, die das Volk nicht beunruhigen will, und dem auf Faktenbasis argumentierenden Militär offenbar werden.

Sie sprechen vom Interesse der Oligarchen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Meinen Sie damit einen schnellstmöglichen Sieg oder eine Verhandlungslösung mit anschließender Teilung des Landes?

Für die Oligarchen ist das Wichtigste ihr Geschäft, daher geht es ihnen um ein möglichst schnelles Ende der Kampfhandlungen. Auch durch Verhandlungen. Den Oligarchen ist es wichtig, dass die Regionen, in denen ihre Aktivitäten konzentriert sind, unter der Kontrolle einer einzigen Jurisdiktion stehen – sonst müssen sie am Ende in zwei Staaten Steuern zahlen. Derzeit wäre die ukrainische Jurisdiktion für sie optimal.

Sie meinen, ukrainische Großunternehmer, die im Donbass ihre Industrien haben, könnten theoretisch damit leben, dass der Donbass geschlossen an Russland fällt?

Von den Russen besetzt ist nur ein Teil des Donbass, nicht der ganze. Die Front verläuft quer hindurch. Es klingt zynisch, und das schreibt auch niemand in den Medien, aber manchen Oligarchen ist nur ihr Geschäft von Bedeutung. Viele unterhielten auch Geschäftsbeziehungen zu russischen Politikern, weil es profitabel war. Wie heißt es so schön: nichts Persönliches, es geht nur ums Geschäft. Später haben sich dann einige die Wyschywanka angezogen …

… das traditionell bestickte ukrainische Hemd, das Heimatliebe symbolisiert.

Richtig. Andere ließen gar keine politische Position erkennen. Man muss aber sagen, dass die Oligarchen inzwischen einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung der Armee leisten und sich loyal der Regierung gegenüber verhalten. Einer sitzt allerdings im Gefängnis, Ihor Kolomojskyj …

… ursprünglich Selenskyjs Mentor.

Deshalb auch Kolomojskyjs Verhaftung. Als Mahnung für die anderen, was sie erwartet, wenn sie sich nicht pro-ukrainisch und regierungstreu verhalten.

Offiziell geht es um Finanzvergehen. Steckt etwas anderes dahinter?

Kolomojskyj war dem Präsidenten zu unabhängig. Er kontrolliert einen Teil der Regierungsfraktion und wurde Selenskyj gefährlich.

Wenn der frühere Präsident Poroschenko von einem Viertel der Wählerschaft unterstützt wird – für welchen Kurs steht er in den Augen dieser Wähler?

Für einen Sieg, dem ein nachhaltiger Friede folgt. Poroschenko würde jedoch keine Verhandlungen anbieten, die mit den Minsker Gesprächen vergleichbar sind. Die haben ein für alle Mal ausgedient. Er setzt sich für eine Nato-Annäherung der Ukraine nach dem Konzept von Anders Fogh Rasmussen ein [Anm.d.Red.: ehem. Nato-Generalsekretär]. Rasmussen hat vorgeschlagen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, aber den Beistandsartikel 5 auf die von Kiew kontrollierten Gebiete zu beschränken. Mit anderen Worten: Poroschenko schlägt vor, nicht Russland Verhandlungen anzubieten, sondern dem westlichen Bündnis.

Sie sagen, die Rechtsradikalen seien jetzt weniger sichtbar. Spielt das rechte Spektrum keine Rolle mehr?

Unter Präsident Viktor Janukowytsch [Anm.d.Red.: 2010 bis 2014] wurden Teile der extremen Rechten von Oligarchen aus seinem Umfeld finanziert. Die glaubten, die Rechtsnationalen würden dann keine Bedrohung für ihn und seine Wiederwahl darstellen. Vertreter rechtsextremer Organisationen kamen während des Kiewer Maidans 2013/14 zu Janukowytsch und schüttelten ihm vor den Fernsehkameras die Hand.

Als Janukowytsch dann im Februar 2014 nach Russland floh, folgten ihm diese Oligarchen. Die rechten Organisationen standen plötzlich ohne Geld da, verloren die Parlamentswahlen, waren nicht an der Macht beteiligt und büßten an Popularität ein. Als 2022 Russland in die Ukraine einmarschierte, gingen viele Rechtsradikale an die Front und organisierten Freiwilligenbataillone.

Derzeit sind die meisten von ihnen im Krieg. In den Städten abseits der Front sieht man sie nur zweimal im Jahr, am 14. Oktober, dem Gründungstag der Ukrainischen Aufständischen Armee [Anm.d.Red.: 1942 gegründete antisowjetische Miliz, zeitweise in Kollaboration mit den deutschen Besatzern] und am 1. Januar, dem Geburtstag ihres geistigen Führers Stepan Bandera. Solange die Mehrheit der Rechten nicht von der Front zurückkehrt, bleibt ihr Einfluss auf den politischen Prozess gering.

Vor kurzem hat Selenskyj die für März 2024 anstehenden Präsidentschaftswahlen mit Hinweis auf das Kriegsrecht infrage gestellt. Was sind seine Motive?

Für Selenskyj wären Wahlen derzeit ungünstig. Er wurde mit dem Versprechen gewählt, nur eine Amtszeit zu absolvieren, als „Diener des Volkes“ zu agieren, das Volk in allen wichtigen Fragen zu konsultieren und Volksabstimmungen durchzuführen. In Wirklichkeit hat das Kriegsrecht ihn zum Alleinherrscher gemacht.

Falls der derzeitige Oberbefehlshaber Saluschnyj ebenfalls kandidiert, würde Selenskyj mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren. Laut nicht veröffentlichten Meinungsumfragen liegt das Vertrauen in Selenskyj bei rund 68 Prozent und in Saluschnyj bei rund 95 Prozent.

Saluschnyj hat allerdings noch nicht gesagt, ob er überhaupt eine politische Karriere anstrebt. Dennoch glauben viele, dass er kandidieren könnte. Viele sehen in der Machtübernahme durch das Militär auch die einzige Chance, den Krieg zu gewinnen und die Korruption zu beseitigen.

Das Selenskyj-Team weiß das und wird versuchen, die Wahlen zu vermeiden. Das wäre auch längst beschlossene Sache, wenn nicht amerikanische Politiker auf demokratische Verfahren pochten. Das kommt in den USA sowohl von Demokraten als auch von Republikanern. Unter diesem Druck könnte es sein, dass am Ende doch Wahlen stattfinden. Darauf setzen Selenskyjs Konkurrenten und machen sich für den Wahlkampf bereit.

Wie wird das Thema Wahlen in der Öffentlichkeit diskutiert?

Unterschiedlich. Einige Ukrainer sind der Meinung, der Krieg ließe sich nur durch Einigkeit und Geschlossenheit gewinnen. Das ist das Selenskyj-Elektorat. Andere werfen ihm Usurpation der Macht vor und fordern Wahlen.

Dennoch riskiert Selenskyj momentan nichts, wenn er sich gegen Wahlen ausspricht. Der junge, aktive Teil der Opposition steht an der Front. Andere gehören zu den Millionen Flüchtlingen, die vorübergehend im Ausland sind. Selenskyj wird selbst bei größter öffentlicher Unzufriedenheit keinen neuen Maidan bekommen, also keine Massenproteste – da ist niemand, der dort hingehen würde. Ich denke, die Mächtigen verstehen das und kalkulieren das ein.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Selenskyj und Saluschnyj bei Wahlen wirklich gegeneinander antreten?

Das ist nicht ausgeschlossen. Jeder, der die ukrainischen Medien verfolgt, konnte bereits drei Informationskampagnen zugunsten von Saluschnij beobachten. Jedes Mal wird er als die bessere Wahl dargestellt. In den Kiewer politischen Zirkeln heißt es, die USA steckten hinter der Saluschnyj-PR.

Gleichzeitig hat Saluschnyj noch nie behauptet, kandidieren zu wollen. Mit seinem Schweigen setzt er sich positiv von Selenskyj ab, der viel redet und manchmal Dinge sagt, die einander ausschließen. Trotzdem erklären beide mit keinem Wort ihre Konfrontation.

Was dafür spricht, dass Selenskyj den Oberbefehlshaber als Rivalen ernst nimmt, ist seine Entscheidung, Mitarbeiter von Saluschnyj aus ihren Ämtern zu entfernen. Hinzu kommt, dass einer von Saluschnyjs Beratern beim Umgang mit einer Granate unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen ist.

Sie sprechen von Gennadyj Tschastiakow, einem engen Vertrauten. Könnte es sich doch um einen Anschlag gehandelt haben?

Der Fall hat viel zu viele Fragezeichen, um das auszuschließen. Selbst wenn die Handgranate ein Geburtstagsgeschenk war – warum war der Zünder in die Munition geschraubt? Der wird üblicherweise separat transportiert. Und wer hat sämtliche Schutzvorrichtungen entfernt, um eine versehentliche Explosion zu verhindern?

Nicht wirklich glaubwürdig ist auch die Version, Tschastiakow hätte gedacht, die Granate sei ein Schnapsglas in Form einer Granate. Auch dass Beamte im Verteidigungsministerium deutsche Handgranaten im Büro aufbewahren und zu Geburtstagen verschenken, wirkt absolut wild. Zumindest könnten die deutschen Politiker sich fragen, wohin und an wen sie da Munition liefern.

Für mich ist der Vorfall ein „schwarzer Fleck“ für Saluschnyj. Eine Warnung.
Die amerikanische Zeitung Politico schrieb Anfang Oktober, die amerikanische Regierung sei über die Korruption in der Ukraine entschieden besorgter als öffentlich zugegeben. Was können Sie dazu sagen?

Die Ukraine galt unter allen Präsidenten als korrupt. Lediglich im ersten Kriegsjahr, also 2022, verstummten die Anschuldigungen. Inzwischen sind die amerikanischen und europäischen Vorwürfe an die Adresse der Ukraine wieder laut geworden. Trotz des Krieges werden von Kiew umfassende Reformen gefordert.

Die Politiker aller Lager sind sich einig, dass auch dies eine Warnung ist. Ein „schwarzer Fleck“, diesmal für die Regierung. Die westliche Unterstützung könnte gekürzt werden, wenn das Land nicht beweist, dass es die Korruption bekämpft und besiegt. Und ohne die Hilfe der Verbündeten hat die Ukraine nichts, womit sie in den Krieg ziehen kann.

Sollte man in einem Land, das ums Überleben kämpft, nicht erwarten, dass die Elite zumindest eine Zeit lang auf illegale Bereicherung verzichtet?

Die korrupten Netzwerke, die sich vor allem in der zweiten Amtszeit von Präsident Leonid Kutschma gefestigt hatten, also 1999 bis 2005, sind sehr widerstandsfähig. Seither sind viele Ukrainer der Ansicht, dass kein Präsident zwei Amtszeiten regieren sollte. Die Hoffnung auf ein Ende der Korruption in den oberen Rängen ist daher nichts Neues. Das war schon so, als Viktor Juschtschenko zum Präsidenten gewählt wurde.

Kutschmas Nachfolger 2005 als Ergebnis der Orangen Revolution …

Damals hofften viele Menschen, die korrupten Netzwerke würden sich auflösen. Doch dann kam es zu den berüchtigten Gasverträgen.

Mutmaßlich korrupte Vereinbarungen zur Verteilung von russischem Gas an ukrainische Unternehmen …

Später versuchte man, die Korruption mit Hilfe der Amerikaner zu überwinden. Die verlangten nach 2014 vom damaligen Präsidenten Poroschenko, er solle Antikorruptionsstrukturen unter direkter amerikanischer Kontrolle einrichten: Staatsanwälte, Gerichte, Ermittlungsbehörden. Poroschenko hielt dagegen, dass es selbst in den USA keine Antikorruptionsgerichte gibt.

Doch dann entstand wirklich eine Antikorruptionsvertikale nach amerikanischem Konzept. Aber das hat nichts geholfen. Kein einziges Strafverfahren gegen hohe Beamte führte zu einer Verurteilung. Verhaftungen verliefen im Sande.

Als 2019 Selenskyj an die Macht kam, hofften viele, dass er die alten, korrupten Netzwerke zerstören würde. Schließlich war er nicht darin verwickelt. Er war ein politischer Außenseiter. Inzwischen bestätigt die Generalstaatsanwaltschaft, dass die Korruption während des Krieges sogar zugenommen hat. Wenn die Menschen sehen, wie Beamte der Mobilmachungsbehörden Kisten mit Bargeld im Kofferraum transportieren, begreift jeder, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist.

Was ist Ihre persönliche Schlussfolgerung?

Die Ukraine muss jetzt zwei Dinge tun, und beide sind äußerst schwierig: Erstens muss die Korruption bekämpft werden. Nicht die Korruption an der Basis, sondern die Korruption der Eliten. Zweitens muss der Krieg beendet werden, so schnell wie möglich.

Kein ukrainischer Politiker würde es laut sagen, aber geredet wird darüber ständig: Die menschlichen Ressourcen sind begrenzt, der Krieg muss ein Ende haben. Ein ukrainischer Mobilfunkbetreiber gab kürzlich bekannt, dass er seit Kriegsbeginn 400.000 Abonnenten verloren habe. Selbst wenn man unterstellt, dass viele Menschen mehrere Telefonnummern haben, erschreckt diese Zahl. Umso mehr, als die Ukraine zwar ein großes Land ist, aber auch ein sehr kompaktes. Jeder kennt jeden über zwei Handschläge hinweg. Der Tod eines Mannes in Czernowitz spiegelt sich im Schmerz eines anderen in Kiew, und ein Raketenangriff in Odessa schockiert die Menschen im ganzen Land.

Inzwischen trauen die Ukrainer eher einem Militär zu, den Krieg zu beenden, als einem Zivilisten. Das erklärt die wachsende Popularität der sogenannten Militärpartei. Zum ersten Mal in der ukrainischen Geschichte hat ein Militär die höchsten Beliebtheitswerte. Die Ukraine sucht ihren General de Gaulle. Einen, der den Krieg beendet und die Korruption besiegt.

Wenn die USA auf Saluschnyj setzen, wie Sie sagen – ist Saluschnyj damit für die USA der Garant des Sieges?

Vielleicht spielen die USA mit dem System von Checks und Balances. Vielleicht wollen sie Selenskyj nur zeigen, dass er nicht ihr einziger Favorit ist. Ich denke aber, für die Amerikaner ist es einfacher, mit jemandem zu arbeiten, der gewohnt ist, klare Befehle zu geben und zu empfangen. Mit einem Berufssoldaten, der ein höheres Maß an Verantwortung zeigt als jemand aus dem Showbusiness. Vor allem in Zeiten des Krieges.

Im Moment sagt auch Saluschnyj nicht, wann der Friede erreicht werden kann. Aber er gibt den Menschen zu verstehen, dass der Krieg kein schnelles Ende hat. Im Unterschied zu Selenskyjs Team, das den Ukrainern immer wieder vergebliche Hoffnungen macht.

Ist das nicht ein Widerspruch: Sie sagen, einerseits wollten die Ukrainer den Krieg möglichst schnell beenden, und dann unterstützen sie mehrheitlich einen Mann, der eben das nicht verspricht?

Saluschnij wird als ein Führer gesehen, der den Krieg zu Ende bringen kann. Er ist der einzige, der mit der Öffentlichkeit wie mit erwachsenen Menschen spricht. Nicht wie mit Kindern, denen man Märchen erzählt. Die Zivilisten unter den Beamten versprechen erst goldene Berge, dann legen sie die Hände in den Schoß und sagen: „Es hat nicht geklappt.“ Dagegen spricht Saluschnyj von der Wirklichkeit und macht niemandem leere Versprechen. Deshalb vertrauen ihm die Menschen.

Derzeit scheint ein rasches Ende des Krieges nur auf dem Verhandlungsweg möglich. Wären die Ukrainer überhaupt bereit, den Verlust ihres Südostens zu akzeptieren? Oder wäre das Ergebnis nur ein Waffenstillstand bis zu einem zweiten Ukrainekrieg?

Offensichtlich ist die Rückeroberung sämtlicher Gebiete morgen oder übermorgen ausgeschlossen. Selbst in ein paar Monaten – davon hat Selenskyj gesprochen – ist das unmöglich. Aber langfristig, so glauben die meisten Ukrainer, wird die Frage gelöst und die Gebiete kommen zurück.

Ich betrachte den Krieg auch nicht in Begriffen wie erster oder zweiter Ukrainekrieg. Für mich ist er Teil eines Dritten Weltkriegs. Das Wiederaufflammen alter Konflikte auf der ganzen Welt zeigt doch, dass er kein lokales Phänomen ist.

Was müsste geschehen, damit Putin bereit ist, auf Kiew oder Washington zuzugehen?

Er wird es nicht tun. Selbst ein Wechsel im Präsidentenamt wird die russische Politik nicht ändern. Die Elite wird vom Regime genährt und die Opposition physisch vernichtet. Ein Nawalny hat nicht die Kraft, die Aggression zu stoppen. Nur ein Volksaufstand oder die Bereitschaft des Volks, ein westliches Protektorat zu akzeptieren, könnten die Lage ändern. Aber dazu sind die Russen nicht bereit. Außerdem stehen auf jeden noch so minimalen Widerstand, und seien es Theateraufführungen, Lieder oder Gedichte, hohe Haftstrafen. Die einzige Möglichkeit besteht darin, Russland zu schwächen und zu isolieren. Genau das geschieht jetzt.

Falls es doch zu Verhandlungen kommen sollte, wer entscheidet über deren Aufnahme? Die ukrainischen Oligarchen? Der Präsident?

Die Oligarchen entscheiden nicht über Krieg oder Frieden. Wenn, dann ist es der kollektive Westen, die sogenannten Verbündeten, die Nato und vor allem die Vereinigten Staaten.

Indem sie die Ukraine in ihrem existenziellen Krieg mit Russland unterstützen, verfolgen die USA eine Politik der Schwächung Russlands als geopolitischem Gegner. Da es sich hierbei um ein langfristiges strategisches Ziel handelt, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass auch der gegenwärtige Krieg ein langfristiger ist.

In westlichen Medien wird immer wieder diskutiert, inwieweit die Ukraine eine Demokratie nach europäischem Zuschnitt ist. Kritiker führen das Kriegsrecht, die Diskussion um die Präsidentschaftswahlen, die Medien- und Sprachengesetzgebung und den Umgang mit der Opposition an. Wie kommentieren Sie das?

Das Kriegsrecht hat die demokratischen Mechanismen der Ukraine und weite Teile der Verfassung faktisch außer Kraft gesetzt: die Autonomie des Parlaments, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Möglichkeiten kommunaler Selbstverwaltung. Proteste und Massenversammlungen sind verboten. Die aktiven Kräfte der Gesellschaft kämpfen sowieso an der Front.

Die Befugnisse des Präsidenten wurden in kaum glaublicher Weise erweitert. Selenskyj kann nicht nur alleine entscheiden, er hat diese Entscheidungsgewalt auch Personen übertragen, die gar nicht gewählt wurden. Die Opposition kann dagegen nichts tun. Ihre Vertreter werden strafrechtlich verfolgt, wobei es in aller Regel um Hochverrat oder Finanzvergehen geht.

Die Arbeit oppositioneller Journalisten wurde stark eingeschränkt. Die TV-Kanäle sind seit Kriegsbeginn im sogenannten „Telemarathon“ weitgehend gleichgeschaltet, und unabhängige Sender wie der Direkte Kanal oder Espreso werden ins Internet verdrängt. Kritische Journalisten und Blogger wurden mobilisiert, andere sind aus dem Land geflohen.

Ich selbst habe seit Kriegsbeginn keinen Zugang mehr zu ukrainischen TV-Sendern. Gegen mich wurde ein „gesondertes Strafverfahren“ eingeleitet. Man hat mich gewarnt, dass es Listen von „Regimefeinden“ gebe und dass mein Fall „aktiviert“ würde, wenn ich in die Ukraine zurückkehrte. Das ist die Quittung dafür, dass ich Selenskyjs Team offen kritisiere.

Gleichzeitig läuft gegen mich in Russland ein Strafverfahren „wegen Verunglimpfung der russischen Armee“ mit einer Höchststrafe von zehn Jahren. Ich habe es geschafft, den Mächtigen in beiden Ländern als Feind zu gelten. All das durch meine journalistische Tätigkeit.

Zuvor waren Sie in Russland regelmäßig Gast in Talkshows, die im Westen als Propaganda gelten.

Ich habe dort meine ukrainische Position zum Ausdruck gebracht. Es ist wichtig, den Russen zu sagen, was ihr Land der Ukraine antut, wie es die friedliche Bevölkerung zerstört und wie aggressiv seine Politik ist. Infolge solcher Äußerungen wurde auch das russische Strafverfahren gegen mich eröffnet. Seitdem fahre ich nicht mehr dorthin.

Janina Sokolowskaja
Karol Grygoruk für Berliner Zeitung am Wochenende

Wie denken Ihre russischen Kollegen heute? Wie ist die Stimmung dort?

Das kann ich nicht sagen. Ich habe keine Kollegen in Russland.

Sie sprechen von einer amerikanisch kontrollierten Antikorruptionsvertikale, vom amerikanischen Druck auf Selenskyj und von der Tatsache, dass die Entscheidung über Krieg oder Frieden letztlich in den USA getroffen wird. Der Eindruck entsteht, dass die USA tief in Schlüsselbereiche des ukrainischen Staates hineinwirken. Ist das nicht ein Propaganda-Narrativ?

Die USA sind seit langem in die Führung der Ukraine eingebunden. 2015 behauptete der damalige amerikanische Vizepräsident Joe Biden, er spreche öfter mit Präsident Poroschenko als mit seiner eigenen Frau. 2016 bewirkte die amerikanische Regierung sogar die Absetzung des ukrainischen Generalstaatsanwalts.

Unter Selenskyj stieg die Verflechtung auf ein Maximum. Zuvor konnte der amerikanische Botschafter den Präsidenten anrufen und seine Wünsche äußern. Inzwischen ist das nicht mehr auf den Botschafter beschränkt. Als wichtigste „Aufsichtsperson“ gilt die Sonderbeauftragte des Präsidenten für den Wiederaufbau der Ukraine, Penny Pritzker. Sie trifft sich regelmäßig mit dem Präsidenten, dem Premierminister, dem Parlamentspräsidenten und dem Leiter des Präsidialamtes sowie mit regionalen Behörden. Immer wieder kommen auch Delegationen von Kongressabgeordneten, Republikaner und Demokraten.

Gleichzeitig muss man sagen: Während die Ukrainer dem amerikanischen Einfluss früher skeptisch gegenüberstanden, sehen sie jetzt darin eine Chance, die Wahrheit herauszufinden und die Korruption zu bekämpfen. Die meisten glauben, dass die Amerikaner die Verteidiger der Ukraine sind und es ohne sie unmöglich sei, Russland zu widerstehen und eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Der Slogan der Nationalisten – „In der Ukraine müssen Ukrainer herrschen“ – ist vergessen.

Eine letzte Frage: Wird es je wieder gutnachbarliche Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern geben?

Die Beziehungen waren auch vor dem Krieg weder normal noch gutnachbarlich. Seit 1991 bestand das Verhältnis beider Länder aus dem Moskauer Versuch zu beweisen, dass Russland der große Bruder ist, und aus dem Kiewer Bestreben, sich dem zu widersetzen.

Für die Mehrheit der Ukrainer war der russische Einmarsch ein Schock. Die meisten hatten Russland ja als befreundet wahrgenommen. Am schlimmsten war es für die Bevölkerung im Süden und Osten. Dort besaßen viele Menschen eine quasi russische Identität. Der Krieg und die Zerstörungen haben sie eines Besseren belehrt.

Daher ist es auch sinnlos, an die Normalisierung irgendwelcher Beziehungen zu denken. Der Hass steckt im Blut, in den Genen und in den Chromosomen.
ZUR PERSON
Janina Sokolowskaja, geb. 1971 in Kiew, ist eine preisgekrönte ukrainische Journalistin und Politikwissenschaftlerin. In der Ukraine ist sie als entschiedene Selenskyj-Kritikerin bekannt. Dort hat man ihr bei Rückkehr mit der Eröffnung eines Strafverfahrens gedroht; seitdem lebt sie in Warschau.

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