Handelsblatt
Die EU-Kommission bescheinigt den Kandidatenländern Ukraine und Moldau Fortschritte, will die Beitrittsverhandlungen aber an Bedingungen knüpfen. Strittig ist der Umgang mit Bosnien.
08.11.2023| Update: 08.11.2023 – 11:31 Uhr | von Moritz Koch und Carsten Volkery
Brüssel Die Europäische Kommission hat der Ukraine ein durchwachsenes Zwischenzeugnis auf dem Weg in die EU ausgestellt. Dennoch empfiehlt die Brüsseler Behörde den Mitgliedsländern, die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit dem von Russland angegriffenen Land zu beschließen. Das geht aus einem am Mittwoch vorgelegten Bericht der EU-Kommission hervor.
Eine entsprechende Entscheidung der EU-Staaten wird auf dem Treffen des Europäischen Rats erwartet, das im Dezember in Brüssel stattfinden soll. Dort soll auch Moldau die Tür zur EU geöffnet werden, ein Land, dem die Kommission ebenfalls Fortschritte bescheinigt.
Bis zuletzt umstritten war in der Kommission die Frage, ob sie auch Beitrittsverhandlungen mit Bosnien-Herzegowina empfehlen sollte. In dem Statusbericht zur Erweiterungspolitik, der dem Handelsblatt vorab vorlag und am Mittwoch veröffentlicht wurde, stellt sie dem Land nun in Aussicht, diese Empfehlung bald abzugeben – und zwar, sobald das Land „das notwendige Maß“ der Kriterien erfülle. Im März 2024 will die Kommission die Fortschritte erneut bewerten.
Das Beitrittsverfahren sieht vor, dass die Bewerber das EU-Recht schrittweise übernehmen und stabile demokratische und rechtsstaatliche Institutionen vorweisen. Nicht die Vergrößerung des europäischen Binnenmarkts steht im Mittelpunkt, sondern die Schaffung einer Friedensordnung.
„Die EU-Erweiterung ist ein Treiber für langfristige Stabilität, Frieden und Wohlstand auf dem gesamten Kontinent“, schreibt die Kommission in dem Erweiterungsbericht. „Die EU-Mitgliedschaft ist eine geostrategische Investition in ein starkes, stabiles und geeintes Europa.“
Ukraine: Bedingt beitrittsverhandlungsbereit
Die Verhandlungen mit der Ukraine sind primär als geopolitisches Signal zu verstehen: Europa will zeigen, dass es die Ukrainer in ihrem Freiheitskampf nicht hängen lässt. In ihrem Bericht bilanziert die Kommission, dass das Land trotz des „brutalen Angriffskriegs“ der Russen ein bemerkenswertes Maß an „institutioneller Stärke, Entschlossenheit und Funktionsfähigkeit“ zeige.
Bei „demokratischen und rechtsstaatlichen Reformen“ sei die Regierung deutlich vorangekommen. Von den sieben Reformschritten, die Brüssel im vergangenen Sommer identifiziert hatte, seien vier umgesetzt, heißt es in dem EU-Papier. Bei dreien gebe es noch Nachholbedarf.
Das gilt für den Schutz von Minderheiten, den Kampf gegen Korruption sowie die Eindämmung der politischen und wirtschaftlichen Macht von Oligarchen. Defizite sieht die EU zudem im Vorgehen gegen das organisierte Verbrechen, das durch „weitverbreitete Korruption“ behindert werde.
Die Kommission rät den Mitgliedstaaten daher, die Aufnahme der Beitrittsgespräche an die Bedingung zu knüpfen, dass die ukrainische Regierung in diesen Bereichen noch nachbessert. Das bedeutet konkret: Die erste Runde der Beitrittsverhandlungen soll erst stattfinden, wenn Kiew weitere Reformen angeschoben hat. Diplomaten halten es für möglich, dass dies schon im kommenden Jahr der Fall sein könnte.
Größte Hürde: Krieg mit Russland
Klar ist aber: Bevor die Ukraine EU-Mitglied wird, werden nach Einschätzung von Brüsseler Beamten noch etliche Jahre vergehen. Der von dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski geäußerte Wunsch, sein Land 2025 in die EU zu führen, dürfte kaum in Erfüllung gehen.
Denn bevor die EU die Ukraine, ein Land mit 40 Millionen Einwohnern und einem gewaltigen Agrarsektor, aufnehmen kann, muss sich die EU selbst reformieren. Schon deshalb, weil ansonsten künftig fast alle Fördermittel für Landwirte an ukrainische Großgrundbesitzer fließen würden.
Wichtigste Hürde für den EU-Beitritt der Ukraine ist jedoch der Krieg mit Russland. Solange die Grenzen der Ukraine umkämpft sind, werden die Europäer kaum bereit sein, das Land aufzunehmen. Denn die EU-Verträge sehen eine Beistandsklausel vor – und niemand in Brüssel ist bereit, einen Krieg mit Russland auszutragen.
Ukraine-Bericht von Ursula von der Leyen
Die Beitrittsperspektive soll der Ukraine durch die schwere Zeit des Krieges helfen. Gerade jetzt, da die Befürchtung wächst, dass die westliche Unterstützung nachlässt. „Es ist wichtig, dass Europa ein positives Signal sendet, dass wir immer noch stark an der Seite der Ukraine stehen“, sagte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola bei einem Pressegespräch. Sie hoffe, dass der EU-Rat im Dezember die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließe.
Allerdings dürfe es die EU nicht bei dieser politischen Geste belassen, mahnte Metsola. Die Beitrittsverhandlungen müssten im neuen Jahr auch sichtbar vorwärtsgehen, sonst drohe eine Enttäuschung. Sie plädierte dafür, schon während der Gespräche den Kandidatenländern Zugang zu einzelnen EU-Programmen zu gewähren, wie etwa dem Erasmus-Austauschprogramm für Studierende.
Moldau: Unterstützung für Reformer
Die Republik Moldau ist aus Brüsseler Sicht bei vielen Reformen schon weiter als der große Nachbar Ukraine. Die Kommission hat dem Land neun Auflagen gemacht, deren Fortschritt nun regelmäßig überprüft wird. Die Ukraine und Moldau sind wirtschaftlich verflochten und arbeiten eng zusammen auf ihrem Weg in die EU.
In dem Bericht lobt die EU-Kommission die Reformfortschritte der Regierung in Chisinau. Diese verfolge einen „systematischen Ansatz zur Deoligarchisierung“. Die Ermittlungen gegen Oligarchen machten gute Fortschritte, auch die Zahl der Korruptionsverfahren steige. Ebenso gehe es bei der Besetzung des obersten Gerichtshofs mit unabhängigen Richtern voran.
Wie die Ukraine ist auch Moldau teilweise von russischen Truppen besetzt: Seit 1992 wird der abtrünnige Landesteil Transnistrien von Separatisten kontrolliert, 1500 russische Soldaten sind dort stationiert.
Bosnien: Signal an den Westbalkan
Über den Umgang mit Bosnien-Herzegowina wurde hart gerungen, denn die Kommission hatte in dem Land zuletzt eher Rückschritte festgestellt. Bosnien sei noch nicht bereit für Beitrittsverhandlungen, so lautete nach Informationen des Handelsblatts die Einschätzung auf Fachebene der Behörde.
In dem Erweiterungsbericht spricht die Kommission daher noch keine Empfehlung für Beitrittsverhandlungen aus, sondern stellt diese nur in Aussicht. Sie begrüßt die Reformvorschritte, die die bosnische Regierung in diesem Jahr gemacht hat. Explizit erwähnt sie Strategien gegen organisiertes Verbrechen, Geldwäsche und Terror. Auch das Justizsystem sei verbessert worden.
Allerdings weist sie auch auf „negative Entwicklungen“ in der Republika Srpska hin. Die mehrheitlich von Serben bewohnte Region, die rund die Hälfte des bosnischen Staatsgebiets ausmacht, erkennt wichtige gesamtstaatliche Institutionen wie das Verf assungsgericht nicht an. Die Reformauflagen seien deshalb noch nicht ausreichend erfüllt, heißt es in dem Bericht.
Die Kommission wollte dennoch ein positives Signal an die Bevölkerung auf dem Westbalkan senden. Deshalb fand sie die Kompromissformulierung, dass man Beitrittsverhandlungen aufnehmen werde, sobald es weitere Reformfortschritte gebe. Das hat vor allem einen politischen Grund: Wenn die EU eine Empfehlung für Ukraine und Moldau ausspricht, muss es auch eine Geste Richtung Westbalkan geben, so das Kalkül.
Insgesamt gibt es acht EU-Beitrittskandidaten: Neben der Ukraine, Moldau und Bosnien-Herzegowina sind dies Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Montenegro und die Türkei. Noch keinen offiziellen Kandidatenstatus haben die Bewerberländer Kosovo und Georgien.
Beitrittsverhandlungen laufen bisher mit der Türkei (seit 2005), Montenegro (seit 2012) und Serbien (seit 2014). Die Gespräche mit der Türkei sind jedoch wegen der autoritären Entwicklung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan ausgesetzt, auch die Verhandlungen mit Serbien stocken seit Jahren. Der aktuelle Favorit, das 28. EU-Land zu werden, ist Montenegro.