Sexuelle Gewalt

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Sexuelle Gewalt im Ukraine-Krieg:Putin will „Familien über Generationen zerstören“
09.05.2024 | 11:34

Sofi Oksanen ist Finnlands erfolgreichste Romanautorin. So lange sie schreibt, so lange warnt sie auch vor Wladimir Putin. In Deutschland fiel sie vor allem mit einem Auftritt 2014 auf der Frankfurter Buchmesse auf: Sie warnte vor der totalitären Herrschaft Russlands, erinnerte an die brutale Kolonialisierungsgeschichte Russlands.
Sofi Oksanen schreibt nicht nur aus einem politischen-historischen Verständnis heraus: Ihre Großtante, eine Estin, war während der sowjetischen Besatzung vergewaltigt worden und hörte danach auf zu sprechen. Ihre Werke erzählen immer auch Teile ihrer eigenen Biographie.

Sexualisierte Gewalt sei Russlands Versuch, die Ukraine als Nation auszulöschen, sagt Autorin Sofi Oksanen. Der Westen verkenne, dass Putin vor allem einen Krieg gegen Frauen führe.

ZDFheute: Politik und Medien sprechen oft vom dritten Jahr des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine. Stimmen Sie mit dieser Zeitrechnung überein?

Sofi Oksanen: Der Krieg begann 2014, als Russland die Krim besetzte und den Stellvertreterkrieg in der Ostukraine begann.

ZDFheute: Sie schreiben in einem Ihrer Romane, die Zentimeter eines Frauenkörpers seien ebenso wichtig wie die Staatsgrenzen. Ist die westliche Öffentlichkeit und Berichterstattung zu sehr auf die Frage der militärischen Unterstützung konzentriert?

Oksanen: Gespräche über Krieg sind traditionell Männer- und Panzergespräche. Und das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, aber es schafft auch ein Problem, da die Kriegsverbrechen, die Russland begeht, marginalisiert werden. Das ist etwas, worüber ich und andere schon 2022 besorgt waren, dass der Preis, den die Zivilbevölkerung zahlt, nicht im Fokus steht.
Das öffentliche Bewusstsein über den Einsatz sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe ist im Vergleich zu vielen anderen frühen Konflikten und Kriegen besser. Die geschlechtsspezifische Gewalt ist eine Waffe, die sich gegen die Zukunft der Nation wendet. Es handelt sich um eine Waffe, die eingesetzt wird, weil der Täter Gemeinschaften zerstören will. Es geht also nicht nur um das Opfer, sondern auch um die Gemeinschaft, die Familie, die Nation.

ZDFheute: Sie sprechen in dieser Hinsicht von Genozid.

Oksanen: Es gibt mehrere Zeugenaussagen, in denen die Opfer erzählt haben, dass die russischen Täter zum Beispiel Sätze gesagt haben wie „Wir werden dich vergewaltigen, bis du keinen Sex mehr mit ukrainischen Männern haben willst“ oder „Wir werden dich so lange vergewaltigen, bis du keine Kinder mehr haben willst“.

Es werden auch viele Männer sexuell misshandelt. Russische Soldaten haben ukrainische Männer kastriert.

Das sind klare Zeichen dafür, dass sie Familien über Generationen zerstören wollen. Und wenn wir dann über Völkermord sprechen, ist es auch wichtig, solche Muster zu finden und auch das Gesamtbild zu sehen. Denn sexualisierte Gewalt kann nicht von den anderen Gewalttaten Russlands, zum Beispiel der Deportation von Kindern aus der Ukraine, getrennt werden. Wenn man all das zusammenfasst, gibt es ein klares Ziel, dass die Ukraine nicht als Nation existieren soll.

ZDFheute: „Putins Krieg gegen die Frauen“ heißt Ihr neuestes Buch. Gemeint ist auch der Frauenhass Wladimir Putins in Russland selbst.

Oksanen: Die Macht in Russland liegt nicht in den Händen von Frauen, weder die politische noch die wirtschaftliche. Die Rechte von Frauen sind unter Putin bedroht. Zum Beispiel versucht er, das Abtreibungsrecht weiter einzuschränken. Durch die Einschränkung der Frauenrechte will der Kreml die Macht in den Händen der Männer halten. Und unter dem Oberbegriff „traditionelle Werte“, zu dem auch die Frauenfeindlichkeit zählt, bietet sich ihm die Möglichkeit, sich mit gleichgesinnten Gemeinschaften im Westen und mit anderen autoritären Herrschern und oder Diktatoren zu vernetzen.

ZDFheute: „Sei nicht gleichgültig, wende den Blick“ nicht ab, schreiben Sie am Ende des Prologs. Haben Sie Verständnis, wenn Menschen sich dieser Realität des Krieges nicht stellen wollen?

Oksanen: Gleichgültigkeit ist auch eine Form von Gewalt. Und Überlebende wollen, dass die Verbrechen anerkannt werden. Und ein Weg zur Gerechtigkeit besteht meiner Meinung nach darin, ihr Raum zu geben. Eine der Absichten sexualisierter Gewalt ist es, Überlebende zum Schweigen zu bringen. Und wenn das das Ziel ist, dann sollten wir das Gegenteil tun.

Das Interview führten ZDF-Korrespondentin Winnie Heescher und Claudius Technau.