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„Terminator auf Prothesen“: Putin schickt Versehrte in den Krieg
Stand: 05.11.2024, 19:16 Uhr
Von: Karsten-Dirk Hinzmann
Nur ohne Kopf scheinen die Aussichten auf Freilassung gut – Russlands verwundete Soldaten im Ukraine-Krieg beklagen die grausame Behandlung.
Moskau – „Man kann nur noch entlassen werden, wenn einem beide Arme oder beide Beine fehlen oder man einfach keinen Kopf hat“, sagt der Soldat, der seinen Namen lieber verschweigt – das investigative Magazin Meduza veröffentlicht gerade seine Geschichte und die seiner unzähligen Kameraden, die (noch) nicht zur Zahl der inzwischen geschätzten 600.000 getöteten Soldaten Russlands gehören. „Es ist unsere Pflicht, die Familien unserer gefallenen und verletzten Kriegskameraden zu unterstützen“, sagte Wladimir Putin eingangs des Ukraine-Krieges. Die Realität sieht wohl nüchterner aus.
Der Thinktank Institute for the Study of War veröffentlicht aktuell Posts russischer Militärblogger, wonach das russische Kommando verwundeten Soldaten keine angemessene medizinische Versorgung zukommen ließe, sondern sie stattdessen in einem „medizinischen Keller“ einsperrte und Bestechungsgelder in Höhe von 1,5 Millionen Rubel (etwa 15.000 Euro) für ihre Freilassung verlange.
„Herbstaufruf“: Putin zieht aktuell rund 133.000 Menschen zum Militärdienst
Gleichzeitig meldet Euronews, dass in Russland im Rahmen der traditionellen Herbst-Einberufungskampagne aktuell rund 133.000 Menschen zum Militärdienst gezogen würden – für einen Zeitraum von zwölf Monaten. Das beträfe alle Männer zwischen 18 und 30 Jahren, die keine Reservisten seien und der Wehrpflicht unterlägen. Dieser Herbstaufruf, der bis zum 31. Dezember dauere, sei die zweite routinemäßige Wehrpflichtaktion seit der Erhöhung des Höchstalters von 27 auf 30 Jahre, schreibt das Magazin.
„Mit Hepatitis, mit HIV, ohne Arme, ohne Beine, mit Granatsplittern im Kopf. Ich kannte jemanden, dem drei Finger an der linken Hand abgetrennt worden waren. Er wurde zurückgeschickt – und eine Woche später verlor er die Hälfte seines rechten Arms! Aber das wird kein Problem sein – sie werden ihm eine Prothese geben und dann wird er wieder zurückgehen. Er wird kämpfen, bis er aussieht wie der Terminator und mit Prothesen herumläuft!“ Sergej gegenüber Meduza.
Laut Gesine Dornblüth in der Phönix Talk-Runde hatte der Überfall der Ukraine bei Kursk die Brisanz dieses Themas auch für Wladimir Putin deutlich gemacht: Der freien Journalistin zufolge zählten vor der Welt besonders die Hunderten durch die Ukraine gefangenen Wehrpflichtigen – „einige Quellen sprechen sogar von 2.000“, wie sie sagt. Das sei der Punkt, an dem sich Russland tatsächlich bewege, an dem die Ukraine Russland zur Reaktion zwingen könne. „Und Russland hat quasi angeklopft und gefragt nach einem Gefangenen-Austausch, weil einfach die Tatsache, dass dort Wehrpflichtige gefangen genommen wurden, ans Licht gebracht hat, dass die da im Einsatz sind und das ist eben sehr, sehr umstritten in Russland.“
Der Vertragssoldat gilt dagegen in der russischen Gesellschaft weit weniger. Putins vollmundige Botschaft zu Beginn des Krieges war gewesen, „verwundete Männer hätten Anspruch auf eine Entschädigung von drei Millionen Rubel, das entspricht fast 50.000 Euro oder dem Betrag, den ein durchschnittlicher russischer Arbeiter in vier Jahren verdienen würde“, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet hatte.
Um zu ergänzen: dass einige verletzte Soldaten – darunter auch solche mit schweren Verletzungen – nach eigenen Recherchen Schwierigkeiten gehabt hätten, die Entschädigung zu erhalten. Dies sei aus Interviews mit vier verletzten russischen Soldaten hervorgegangen, dem Verwandten eines verwundeten Soldaten, zwei Personen aus Interessengruppen, die Soldaten vertreten, und einem Anwalt, so Reuters. Oftmals werde den Soldaten gesagt, dass gerade ihre Verletzung von der Entschädigung ausgenommen sei.
Verrufener Kur-Aufenthalt: Mit dem Versprechen geschickt, eine Therapie zu erhalten
Besonders in Verruf geraten ist offenbar das „Erholungsregiment“ der 47. russischen Panzerdivision, wie das Magazin Meduza berichtet. Der Sinn dieser Einheit läge in der Rekonvaleszenz verwundeter Frontkämpfer. „Die Leute werden mit dem Versprechen hierher geschickt, dass sie eine Therapie erhalten. Aber normalerweise sind sie nicht lange genug dort, um behandelt zu werden, und kehren dann einfach in den speziellen Militäreinsatz zurück“, bestätigt gegenüber dem Magazin ein Angehöriger des Regiments. Anscheinend werden die frisch Kriegsversehrten dort geparkt, um später in regulären Einheiten die Lücken aufzufüllen.
Meduzas Quelle ist Sergej – im Oktober 2023 sei der Soldat in der Nähe von Kupjansk in der ukrainischen Region Charkiw einem Gefecht um das Dorf Synkiwka nur schwer verletzt entkommen: mit einem abgetrennten Bein und Granatsplittern in Gesäß, Leistengegend und Brust, wie Meduza schreibt. Angeblich habe die russische Armee trotz der Amputation bis heute an ihrem Soldaten festgehalten und die Entlassung aus offenbar fadenscheinigen Gründen hinausgezögert.
Terminator mit Prothesen: Russlands Offensiven und Gegenoffensiven ähneln Himmelfahrtskommandos
„Mit Hepatitis, mit HIV, ohne Arme, ohne Beine, mit Granatsplittern im Kopf. Ich kannte jemanden, dem drei Finger an der linken Hand abgetrennt worden waren. Er wurde zurückgeschickt – und eine Woche später verlor er die Hälfte seines rechten Arms! Aber das wird kein Problem sein – sie werden ihm eine Prothese geben und dann wird er wieder zurückgehen. Er wird kämpfen, bis er aussieht wie der Terminator und mit Prothesen herumläuft!“, gibt Sergej zu Protokoll.
Immer wieder tauchen in Sozialen Netzwerken Videos vermeintlich russischer Soldaten von der Front auf. Sie berichten dann wiederholt von Einsätzen, die einem Himmelfahrtskommando ähneln. Sie würden ohne ausreichende Ausrüstung, Waffen und Munition in den Kampf geschickt. „Für die Verwundeten wurde keine Evakuierung durchgeführt. Einige konnten auf unterschiedliche, aber immer abenteuerliche Weise entkommen. Diejenigen, die zurückkamen, wurden mit Messern bewaffnet wieder in den Kampf geschickt. Ohne Schusswaffen. Unser Kommando sagt, wir sind Fleisch“, hatte ein unbekannter russischer Soldat in einem Video geklagt – Russlands Soldaten haben Wladimir Putin immer wieder um Mitgefühl angefleht.
Ukraine-Krieg macht klar: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck“
Das Menschenbild der russischen militärischen Führung hatte Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung pointiert beschrieben: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck – als Verbrauchsware Soldat.“ Im Juli hatte Meduza berichtet, dass russische Militärärzte geklagt hätten, dass auf dem Schlachtfeld in der Ukraine verletzte Soldaten sterben, die hätten gerettet werden können.
Russische Soldaten erlitten im Gefecht vor allem schwere Schrapnellwunden an Armen und Beinen, Verletzungen innerer Organe, Brüche, Verbrennungen, Erfrierungen und Gehirnerschütterungen, schreibt das unabhängige russische Recherche-Magazin Werstka. Danach würden einige der Schwerverletzten ohne Erstversorgung sterben, und Militärangehörige mit leichten Verletzungen kehrten mit Nervenschäden an den Gliedmaßen aus Krankenhäusern an die Front zurück. Viele Kopfverletzungen führten zum Verlust des Gehörs.
Der Transport in ein Lazarett sei insofern noch kein Grund zu überschwänglicher Hoffnung. Dem Magazin zufolge bliebe aber jeder 20. Soldat, der hätte gerettet werden könnten, ohne medizinische Versorgung schon auf dem Schlachtfeld liegen – das will Werstka Unterlagen des russischen Verteidigungsministeriums entnommen haben. Wer dennoch wieder zusammengeflickt würde, hätte den nächsten Kampf auszufechten, um wieder nach Hause zu kommen – offenbar ist der russische Soldat beliebter als gefallener Held, denn als heimgekehrter Versehrter. Das legt gerade der britische Guardian nahe; demnach heilige der Zweck weiterhin die Mittel.
Putins Armee der Gesetzlosen: Ehemalige Sträflinge statt mobilisierter Soldaten
Einer der Hauptgründe für die scheinbare Gleichgültigkeit der russischen Gesellschaft gegenüber der steigenden Zahl der Todesopfer liege nach Ansicht von Denis Volkov in der Zusammensetzung der Armee, wie der Direktor des russischen Sozialforschungsinstituts Lewada-Zentrum dem Guardian gegenüber geäußert hat. Demnach will Volkov mit Statistiken belegen, „dass es sich bei den meisten Kämpfenden und Sterbenden entweder um Freiwillige aus verarmten russischen Regionen oder um ehemalige Sträflinge handelt und nicht um mobilisierte Soldaten, die zum Kampf gezwungen wurden, oder um Menschen, die vor dem Krieg einen Vertrag unterzeichnet hatten“.
Auch Sergej war aus dem Gefängnis zur Armee gekommen – genau, wie Andrej, ein anderer Soldat oder wie viele weitere, die das Magazin Meduza gesprochen hat. Sergej hatte demnach eine Haftstrafe wegen Diebstahls zu verbüßen – mit 72 Tagen restlicher Haftzeit, als er Vertragssoldat wurde. „Seine Erklärung, warum er zum Militär ging, ist verworren: Manchmal nennt er Schulden, die er abzahlen musste, manchmal beschreibt er einen inneren Wunsch, sich vor dem Gesetz zu rehabilitieren“, schreibt Meduza.
Offensichtlich hatte er sich Illusionen hingegeben – wie so viele mit ihm – , wenn er sagt: „Ich wusste nicht, dass ich keine Beine mehr haben würde. Tief in meinem Inneren glaubte ich, dass ich lebend zurückkehren würde.“