30.11.2023 – 7:33»Russland setzt die Auslöschung historischer Erinnerung als Waffe ein«
Putins Angriffskrieg bedroht auch das kulturelle Gedächtnis der Ukraine. Historische Dokumente wurden gezielt zerstört, wie ein neuer Bericht dokumentiert. Nun starten ukrainische Archive einen Hilferuf.
Von Felix Bohr
Russlands Angriffskrieg gefährdet zunehmend das kulturelle Gedächtnis der Ukraine. Seit Beginn der Attacke am 24. Februar 2022 haben russische Truppen Millionen Dokumente zur Geschichte des Landes zerstört. Überall im Land liegen Museen, Kirchen, Denkmale und Archivgebäude in Trümmern, laut einem aktuellen Bericht der Unesco sind seit Kriegsbeginn insgesamt 329 kulturelle Stätten betroffen.
Aus Sicht des skrupellosen Hobbyhistorikers Wladimir Putin hat die Ukraine als souveräner Staat keine Existenzberechtigung – und somit auch keine eigenständige Geschichte.
Allein im Staatsarchiv der monatelang von Russland besetzten Stadt Cherson wurden 50 Prozent der Dokumente geplündert. Zu diesem Ergebnis kommt ein neuer Bericht der Arolsen Archives, des internationalen Zentrums zur Erforschung der NS-Verfolgung mit Sitz im nordhessischen Bad Arolsen.
»Wir haben das Ausmaß der Zerstörungen und Plünderungen gesehen und verstanden, dass Russland die Auslöschung von historischen Erinnerungen als Waffe einsetzt«, sagt Floriane Azoulay, Direktorin des Zentrums. »Vor diesem Hintergrund sehen wir es als unsere Verantwortung an, die Bestände zu erhalten.«
Der Bericht der Arolsen Archives stützt sich auf Interviews mit 23 Mitarbeiterinnen und Experten der staatlichen Regionalarchive in der Ukraine. Demnach mussten etwa mehrere Archive im Chaos des Krieges ihr Inventar überstürzt auslagern, wodurch ein großes Durcheinander entstand. Das zerstörte Regionalarchiv in Wyssokopillja nahe Cherson ist vermint und nicht betretbar.
Ukrainische Archive starten einen Hilferuf
Den befragten Experten zufolge sind zahllose noch erhaltene Schriftstücke in den beschädigten Magazinen der Witterung des Winters ausgeliefert. Sie lagern lose auf den Fußböden der Gebäude und verschimmeln bei Regen und Schnee. Die meisten Archive verfügen in Zeiten des Krieges nur über 50 Prozent ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, was die Rettung der Akten weiter erschwert.
Deshalb starten die ukrainischen Archive jetzt einen Hilferuf. Sie benötigen dringend Finanzhilfen und personelle Unterstützung, aber auch Sachspenden wie Luftentfeuchter, Archivboxen und -regale. Besonders wichtig sind zudem Computer, Software-Lizenzen und Scanner mit hoher Auflösung.
»Die noch vorhandenen Dokumente müssen so schnell wie möglich digitalisiert werden«, sagt Hanna Lehun, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arolsen Archives und Mitautorin des jetzt veröffentlichten Berichts. Die gebürtige Ukrainerin ist bereits im Frühjahr in die Ukraine gereist und hat bei der Sicherung wichtiger Archivbestände geholfen.
Die Dokumente betreffen auch deutsche Verbrechen
Bei der Rettung der ukrainischen Archive trägt die Bundesrepublik eine besondere historische Verantwortung. Denn vielerorts beinhalten die vom Verfall bedrohten Dokumente wichtige Informationen zu den deutschen Besatzungsverbrechen in der Ukraine zwischen 1941 und 1944 – darunter auch der Raub ukrainischer Kulturgüter durch die Nationalsozialisten.
Betroffen sind zudem Verwaltungsakten der Wehrmacht und nationalsozialistischer Verbände. Hinzu kommen die Schoa betreffende Dokumente sowie archivierte Arbeitspässe und Aufenthaltsausweise ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die ins Deutsche Reich verschleppt wurden.
In Cherson sind unzählige dieser Dokumente bereits von den Russen geraubt oder vernichtet worden. »Das ist ein großer Verlust«, sagt Forscherin Lehun. »Damit geht die Geschichte verloren.«
Die ukrainischen Archive kämpfen gegen die Zeit. »Wir versuchen, mit unseren Mitteln die Archive bei dieser gewaltigen Aufgabe zu unterstützen«, sagt Arolsen-Direktorin Floriane Azoulay. »Doch um das kulturelle Gedächtnis der Ukraine zu bewahren, braucht es mehr Partner und mehr finanzielle Mittel.«