Die Tragödie von Kostjantyniwka

Stern

Tragödie von Kostjantyniwka Eine Rakete tötete 16 Menschen auf einem ukrainischen Markt – offenbar hatte die Ukraine sie selbst abgefeuert
von Marc Drewello
19.09.2023, 18:13

Anfang September schlug eine Rakete auf einem Markt in der ukrainischen Stadt Kostjantyniwka ein, 16 Menschen starben. Beweise legen nahe: Das Geschoss wurde nicht von Russland, sondern von der Ukraine selbst abgefeuert.

Die Meldung sorgte weltweit für Entsetzen: Am 6. September wurden mitten auf einer belebten Marktstraße der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka 16 Menschen durch eine Rakete getötet und mehr als 30 verletzt. Wenig später machte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in den sozialen Medien „russische Terroristen“ für den Beschuss verantwortlich. Medien weltweit – darunter auch der stern – gingen ebenfalls von einem weiteren völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf Zivilisten aus, wie es sie in diesem Krieg schon so oft gegeben hat. Doch das entspricht womöglich nicht der Wahrheit.

Nach Recherchen der „New York Times“, die nach eigenen Anhaben Beweise gesammelt und analysiert hat, tragen nicht die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin die Verantwortung für die Opfer, sondern die ukrainischen Streitkräfte. Raketensplitter, Satellitenbilder, Zeugenaussagen und Beiträge in den sozialen Medien deuteten stark darauf hin, dass der katastrophale Einschlag das Ergebnis einer fehlgeleiteten ukrainischen Luftabwehrrakete war, die von einem Buk-Boden-Luftsystem abgefeuert worden war“, schreibt die Zeitung. „Der Angriff scheint ein tragisches Missgeschick gewesen zu sein.“

Diesen Verdacht hatte kurz nach dem Vorfall bereits das Conflict Intelligence Team (CIT) geäußert, eine in Russland gegründete investigative Gruppe, die mithilfe von Informationsgewinnung aus offenen Quellen bewaffnete Konflikte analysiert und mittlerweile von den russischen Behörden zu einer „unerwünschten“ Organisation erklärt und verboten wurde. Luftverteidigungsexperten zufolge können Raketen wie diejenige, die auf dem Markt in Kostjantyniwka einschlug, aus verschiedenen Gründen vom Kurs abkommen, so zum Beispiel durch elektronische Fehlfunktionen oder eine beim Start beschädigte Lenkflosse.

Sowohl die „New York Times“ als auch das CIT stützen ihre Behauptungen unter anderem auf Aufnahmen von Sicherheitskameras, die beweisen sollen, dass die Rakete, die in Kostjantyniwka einschlug, von ukrainisch kontrolliertem Gebietes kam und nicht aus Richtung der russischen Linien. Die Aufnahmen zeigen, wie mehrere Fußgänger – aufgeschreckt durch das Geräusch am Himmel – gleichzeitig ihre Köpfe zur sich nähernden Rakete hin drehen. In ihrer Blickrichtung liege aber nur von der Ukraine gehaltenes Gebiet, schreiben Zeitung und Recherchegruppe. Wenige Augenblicke vor der Explosion sei zudem erkennbar, wie sich die Reflexion des Geschosses über die Dächer zweier geparkter Autos bewegt.

Die Reaktion der Passanten und die Reflexionen belegten, dass die Rakete von Nordwesten her angeflogen gekommen sei, heißt es. Die Explosionsstelle und die Schäden, die sich vom Detonationspunkt aus erstrecken, bestätigten dies, berichtet die „New York Times“ unter Berufung auf einen Sprengstoffexperten und eigene Analysen.

Im Nordwesten befinden sich aber gar keine russischen Stellungen. Die Kremltruppen sind nach Angaben des CIT östlich und südöstlich von Kostjantyniwka stationiert, etwa 18 bis 19 Kilometer von der Stadt entfernt. Hätten russische Einheiten die Rakete im Nordwesten gestartet, hätten sie das in etwa 250 Kilometer Entfernung in der Region Belgorod von eigenem Territorium aus machen müssen. „Da wir ein solches Szenario für unwahrscheinlich halten, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen versehentlichen ukrainischen Raketeneinschlag handelte“, schlussfolgert die Recherchegruppe.

Weitere Beweise zeigen der „New York Times“ zufolge, dass das ukrainische Militär wenige Minuten vor der Explosion auf dem Markt zwei Boden-Luft-Raketen von der Stadt Druschkiwka, etwa 16 Kilometer nordwestlich von Kostiantyniwka, in Richtung der russischen Frontlinie abfeuerte. Reporter der „New York Times“ hätten sich in Druschkiwka befunden, als sie um 14 Uhr den Abschuss einer Rakete gehört hätten, dem wenige Minuten später eine zweite gefolgt sei. Zufällig habe ein Mitglied des Teams den ersten Abschuss in einer Sprachnachricht aufgenommen.

Mehrere Zeugen aus Druschkiwka, darunter ein ukrainischer Soldat, hätten zu der Zeit ebenfalls von Raketenabschüssen berichtet. „Noch eine“, hieß es demnach in einem Telegram-Post, der sich auf einen zweiten Raketenstart bezog, um 14:03 Uhr. Anwohner hätten diese zudem als ungewöhnlich laut beschrieben, jenseits der Kriegsgeräusche, an die sie sich gewöhnt haben, was sich mit Zeugenberichten über frühere Starts von Raketen des mobilen Buk-Systems decke. Auch der Zeitpunkt der Abschüsse passe zum Einschlag der Rakete in Kostjantynivka um 14:04 Uhr.

Ukraine untersucht Vorfall

Die „New York Times“ berichtet darüber hinaus unter Berufung auf unabhängige Angaben zweier Militärexperten, dass Fragmente des Geschosses sowie die Zerstörungen, die es an den umstehenden Autos und Gebäuden und an der Straße verursachte, am ehesten zu 9M38-Raketen passen, die von Buk-Flugabwehrfahrzeugen abgefeuert werden. Sowohl die Ukraine als auch Russland setzen das Buk-System ein. Da sich Kostjantyniwka in der Nähe der Frontlinie befindet, wäre es aber schwer erklärbar, warum Russland aus der 250 Kilometer entfernten Region Belgorod mit einer Waffe, die zur Abwehr von Jagdflugzeugen, Hubschraubern und Marschflugkörpern dient, auf die Stadt geschossen haben sollte.

Die ukrainischen Behörden hätten unmittelbar nach der Explosion in Kostjantyniwka zunächst versucht, ihren Journalisten den Zugang zu den Raketentrümmern und dem Einschlagsgebiet zu verwehren, berichtet die „New York Times“. Den Reportern sei es aber schließlich doch gelungen, zum Schauplatz zu gelangen, Zeugen zu befragen und Überreste der eingesetzten Waffe einzusammeln. Ein Sprecher der ukrainischen Streitkräfte habe jetzt lediglich mitgeteilt, der ukrainische Sicherheitsdienst untersuche den Vorfall. Weiter könne er sich nach nationalem Recht nicht dazu äußern.

Quellen: „New York Times“, Conflict Intelligence Team