Volkssouveränität

theoriekritik.ch

13.12.2018

Die politische Rechte und das Prinzip der Volkssouveränität

Gregor Kritidis, geb. 1986, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover; Redaktion des Portals Sozialistische Positionen, kritidis@sopos.org.

Veröffentlicht: 13. Dezember 2018

Fluss, du fließt in alter Weise
durch Dein programmiertes Tal
in zeitloser Deutschlandreise
so schön und überregional
(Rheingold, Fluss) ***

Das Prinzip der Volkssouveränität ist zentral für die moderne bürgerliche Gesellschaft. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es etwa in der deutschen Verfassung in Artikel 20 Absatz 2. Mit dem „Volk“ sind verfassungsrechtlich alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gemeint – wer das konkret ist bzw. sein darf, ist allerdings politisch in allen Staaten umkämpft gewesen: So hat das NS-Regime „Volksfeinden“ und „-fremden“ die Staatsbürgerschaft entzogen, und die Frage von Geburts- oder Abstammungsrecht hat die politische Auseinandersetzung in der BRD nachhaltig geprägt. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung ist freilich eine Frage zentral: Wer darf legitimer Weise im Namen des Volkes sprechen und wer nicht? Oder moderner gesprochen: Welche gesellschaftspolitischen Positionen sind legitim und welche nicht?

Von der völkischen Rechten werden diese Fragen in ihrem Sinne scheinbar eindeutig beantwortet, wie sich an den Beiträgen von Martin Lichtmesz in der von Götz Kubitschek herausgegebenen online-Zeitschrift „Sezession“ exemplarisch nachzeichnen läßt. Der Name Lichtmesz ist ein Anagramm seines bürgerlichen Namen Semlitsch – wer in einer heillosen, zerrissenen Welt das Volk zum Licht der völkische Sonne führen will, muss schon ein Messias sein.

Mit seinen Beiträgen ist Semlitsch zu einem der Stichwortgeber derjenigen geworden, die mit Schlagwörtern wie „Volksverräter“ oder „Lügenpresse“ die Hegemonie der bürgerlichen Eliten herausfordern. „Altparteien“ und „Systempresse“ würden das „Volk“ nicht mehr repräsentieren und könnten daher nicht mehr die Legitimität für sich beanspruchen, in seinem Namen zu sprechen. Und in der Tat zielt Semlitsch treffsicher auf das politische Legitimationsdefizit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Denn auch wenn an der formalen demokratischen Legitimation der politischen Institutionen nicht gezweifelt werden kann, so ist seit dem Siegeszug des Neoliberalismus doch deren inhaltliche Legitimation weitgehend erodiert. Worin dieser Inhalt besteht, darüber lässt uns die völkische Rechte aber notwendigerweise im braunen Dunkel, obwohl dieser doch auf der Hand liegt: Solange die sozialen und ökonomische Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung im gebändigten wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus gewahrt blieben und über eine politische Repräsentanz im politischen Raum verfügten, gab es eine fragiles, stets umkämpftes Klassengleichgewicht. Diese relative Stabilität ist seit Beginn der 1990er Jahre immer weiter ausgehöhlt, die soziale Macht der Subalternen immer weiter unterminiert worden, sei es durch Outsourcing oder Harz IV, gleichzeitig hat die soziale Orientierungskrise und damit auch der Kampf um die Deutungshoheit an Schärfe zugenommen. Mit der sozialen Frage befaßt sich die völkische Rechte aber nur aus Marketing-Zwecken, wie sich etwa am Wahlkampf der AFD ersehen läßt.[1]

Interessant ist in diesem Zusammenhang Semlitschs Rückgriff auf Rousseaus Begriff des „allgemeinen Willen“, der traditionell die Forderung der poltischen Linken nach politischer Gleichheit inspiriert hat: „Die ‘Idee des Volkswillens’ oder eines volonté générale nach Rousseau, eines absoluten, ‘heiligen’, vernünftigen Gemeinwillens des Volkes, ist vielmehr das ideelle Fundament der Demokratie, denn ohne einen (postulierten) Volkswillen kann es weder Volksherrschaft noch Volkssouveränität noch die Identität von Herrschern und Herrschenden geben.[2] In der liberalen Demokratie sei vom volonté générale, dem Allgemeinwillen, jedoch nur der Willen aller, der volonté de tous, die Summe der Einzelinteressen, übriggeblieben. Diese Summe der Partikularinteressen, hier folgt Semlitsch weiter Rousseau, konstituiere aber keinen „allgemeinen Willen“.

So ist es in der Tat, allerdings bildete der Ansatz Rousseaus zu keinem Zeitpunkt die zentrale Legitimationsquelle der westlichen Demokratien. Vom Schlachtruf „No taxation without representation“ über die Pluralismus-Theorien bis zur deliberativen Demokratie gibt es eine Vielfalt von politischen Legitimationsressourcen. Die Leitwissenschaft, die in den letzten 25 Jahren die zentralen Deutungsmuster bereitgestellt hat, ist ohnehin die Neoklassik, was Noch-Kanzlerin Merkel mit dem Schlagwort der „marktkonformen Demokratie“ auf eine griffige Formel gebracht hat.[3] Was im liberalen Kapitalismus als gesellschaftspolitisch vernünftig zu gelten hat, regelt nach dieser Denkweise der Markt, genauer: Die Vorstellung eines freien Marktes in den verschiedenen Spielarten volkswirtschaftlicher Modelle. Dass diese keine analytische und empirische Relevanz haben, hat der Schlagkraft der aus ihnen abgeleiteten wirtschafts- und sozialpolitischen Imperative keinen Abbruch getan, die Zweifel derjenigen, gegen die sie gerichtet sind, aber umso mehr gefördert. Der völlige Verlust des Gegenstandsbezugs in den Ökonomiewissenschaften steht am Beginn des Siegeszuges der „fake news“, mit der die empirische Irrelevanz politischer Aussagen lediglich in schwindelnde Höhen radikalisiert worden ist.

Für die Wirtschaft des Volkes interessiert sich die völkische Rechte herzlich wenig. Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist beim Bezug auf Rousseau der Begriff des „Volkes“ jenseits von Brot- und Butterthemen. Um Einwänden von postmoderner Seite von vornherein zu begegnen, verteidigt Semlitsch den Volksbegriff, indem er ihn relativiert und damit quasi postmodern frisiert:

„Der ‘einheitliche Volkswille’ (der ein in wesentlich-gemeinschaftlichen Dingen homogenes Volk voraussetzt) mag in der Tat immer schon eine ‘Fiktion’ gewesen sein, aber er ist nicht weniger ein Mythos als die liberale Grundidee eines ‘Government by discussion’ (wohl eine noch größere Fiktion und Illusion als der ‘Volkswille’). Wenn unsere Eliten heute von ‘Demokratie’ reden, meinen sie in erster Linie letzteres, weshalb sie auch die ‘direkte Demokratie’ geradezu verteufeln.“[4]

Das zutreffende Argument, dass die Idee der liberalen „deliberativen“ Demokratie im Kern eine Fiktion ist, eignet sich allerdings kaum dazu, der Fiktion eines „einheitlichen Volkswillens“ Überzeugungskraft zu verleihen. Warum diese weniger mythologisch sein soll als das Konzept der deliberativen Demokratie, bleibt vollkommen unerfindlich. Das ahnt auch Semlitsch, und er versucht daher, seinem Volksbegriff empirische Plausibilität zu verleihen. In einer Besprechung eines Beitrages über Populismus, den Alexander Gauland in der FAZ veröffentlicht hat,[5] schlägt er vor, als „Volk“ all jene zu fassen, „die ein Volk sein wollen (…), oder genauer gesagt: die ein bestimmtes Volk bleiben und sich nicht ‘austauschen’ (im Sinne von ersetzen) oder ‘um-volken’ lassen wollen. Dies scheint mir, trotz verwandter populistischer Theorien von links, der einzig gangbare Weg zu sein. Er ist auch der naheliegendste, da der Ausgangspunkt ein bereits vorhandenes und historisch gewachsenes Volk wäre, nicht eines, das von Intellektuellen ‘konstruiert’ werden müßte.“[6]

Ein „bereits vorhandenes“, „historisch gewachsenenes“, „bestimmtes“ – wie denn? – Volk ist aber auch nichts anderes als eine intellektuelle Konstruktion. Wenn alle diejenigen, die ein Volk sein oder bleiben wollen, eines sind, hat sich der Begriff von vornherein erledigt – denn mehr Willen, dazu gehören zu wollen, kann man kaum demonstrieren, als einige tausend Kilometer durch Wüsten und über Meere zu flüchten und dann sein Kind nach Angela Merkel zu benennen. Und andererseits wird es jede Menge „echte“ Deutsche geben, die zur einer völkischen Gemeinschaft gar nicht dazu gehören wollen.

Es ist auch vollkommen vermessen, wenn sich die völkische Rechte auf Rousseau beruft. Es ist gerade das große Verdienst der französischen Revolution und ihrer Vordenker, den Dritten Stand – das „Volk“ – als politisches Projekt und reale gesellschaftspolitische Bewegung gegen die Klasseninteressen von Adel und Klerus und das ihn legitimierende Gottesgnadentum in Stellung gebracht zu haben. Beim politischen Sturz der Feudalordnung konnte das Bürgertum mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen, einen „allgemeinen Willen“ zu vertreten: Menschen gestalten ihre Gesellschaft, nicht irgendwelche metaphysischen Kräfte. Die neu etablierte Ordnung repräsentierte aber keinen allgemeinen Willen: Es zeigte sich sehr schnell, dass mit der Aufhebung der Widersprüche der feudalen Gesellschaft nicht alle gesellschaftlichen Widersprüche aufgehoben worden sind. Im Gegenteil, die sozioökonomischen Widersprüche nahmen in der neuen gesellschaftlichen Ordnung sogar erheblich zu. Die politische Linke verwarf daher den Volksbegriff und brachte gegen die etablierte bürgerliche Ordnung den theoretisch reflektierten, empirisch gesättigten Klassenbegriff in Stellung. Dieser wurde nicht identitär, sondern sowohl als soziologisch-analytischer als auch als politischer Kampfbegriff gegen die bürgerlich-kapitalistische Ordnung in Anschlag gebracht. Arbeiterklasse, das ist nicht etwas, das sein, sondern das mit der Klassengesellschaft insgesamt aufgehoben werden soll. Und das konnte und kann der Sache nach auch kein nationales Projekt sein. In digitalen Zeiten, in denen die „deutsche“ Arbeiterklasse auch ohne Migration aus Chinesen, Südafrikanern oder Brasilianern besteht, ist das Konzept der Nationalökonomie vollends obsolet, und Volkswirtschaft findet eigentlich nur noch in Auerbachs Keller statt.

Die Realität der (Welt-)Klassengesellschaft dürfte auch Semlitsch nicht vollends entgangen sein, dennoch unterstellt er für Deutschland eine bis 2015 irgendwie vorhandene, relative ethnokulturelle Homogenität:

„Daß es innerhalb eines konkreten Volkes immer einen gewissen ‘Pluralismus’ der (Klassen-)Interessen oder Weltanschauungen gibt, sollte nicht über das Problem hinwegtäuschen, daß ‘das Funktionieren der Demokratie’ stets ein ausreichendes Maß an Homogenität voraussetzt (…).“ Deutschland, schreibt er, sei „an einem Punkt angelangt, an dem dieser Pluralismus einerseits überspannt wurde- der Staat wird zum ‘Beutewert’ der Parteien und Einzelinteressen,die relative ethnokulturelle Homogenität oder Einheit (und Einigkeit) des Volkes wird durch Masseneinwanderung und Multikulturalismus aufgelöst, was die Hauptursache der ‘Spaltung’ und ‘Polarisierung’ ist -, während er auf anderen Ebenen stark reduziert wurde, was man etwa daran sehen kann, daß fast nur mehr in ‘Filterblasen’ diskutiert wirdund es praktisch nur noch eine einzige Oppositionspartei gibt, die AfD.“[7]

Von Homogenität oder Einheit kann in der bürgerlichen Gesellschaft freilich grundsätzlich keine Rede sein. Wenn es so etwas wie eine (in der Praxis stets umkämpfte) Gemeinsamkeit gibt, dann die, alle (Klassen-)Konflikte im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung auszutragen, was den Konflikt um die Auslegung der Verfassung und die Transformation dieser Ordnung selbstverständlich mit einschließt.

Charakteristisch ist an Semlitschs Ausführungen vor allem, dass er implizit 2015 als den politischen Wendepunkt markiert    – das unterscheidet ihn von älteren Rechtsintellektuellen, bei denen der Untergang des Abendlandes 1918, 1945 oder spätestens 1968 beginnt. Auch wenn hier und da bei Semlitsch, Gauland und anderen von Klassen oder Klasseninteressen die Rede ist, haben diese Überlegungen keine analytische soziologische Dimension. Denn welche gesellschaftlichen Gruppen mit welchen Interessen in welcher Weise von was betroffen sind, darüber verliert Semlitsch kein Wort, wie auch sonst die realen Lebens- und Arbeitsbedingungen des „Volkes“ nicht von Interesse sind. Und mit einer Verwirklichung eines allgemeinen Volkswillens hat er im Kern auch trotz positivem Bezug auf plebiszitäre Elemente nichts am Hut. Wenn 2015 irgendwo das Prinzip der Volkssouveränität verletzt worden ist, dann in Griechenland, und zwar mit dem Applaus der völkischen Rechten.

Die soziale und politische Polarisierung ist freilich evident. Nur ist diese für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv, wie Wolfgang Abendroth in der Frühphase der Bundesrepublik analysiert hat: „Die liberal-kapitalistische Gesellschaft kennt ihrer Konstruktion nach grundsätzlich nur Sonderinteressen isolierter Subjekte, kein Gesamtinteresse. Diese Sonderinteressen mögen sich in Kompromissen treffen: ein Gesamtinteresse kann dadurch nicht gebildet werden. Als einziges Gesamtinteresse, das als gemeinsames Moment der an der liberal-kapitalistischen Struktur interessierten Gruppen gebildet werden kann, verbleibt dann nur noch die Verteidigung der durch die kapitalistische Wirtschaftsstruktur bestimmten Gesellschaft gegen das Übergreifen des demokratischen Prinzips aus dem staatlichen Raum in die Gesellschaft. Doch ist auch diese Zielsetzung, die sich auf Bewahrung des bloß formalen Moments der Demokratie bezieht und gegen ihre Entfaltung als soziale Demokratie wendet, kein Ausdruck eines wirklich allgemeinen Interesses“.[8]

Damit ist Grundlegendes zur Kritik an den liberalen Pluralismus-Konzeptionen und an der Idee der deliberativen Demokratie gesagt. Das Problem der „Government by Discussion“ liegt nämlich nicht an ihrem schönen Ideal, sondern an ihrer tristen Realität: Demokratische Partizipation ist an zahlreiche sozioökonomische Voraussetzungen gebunden, etwa die freie Zeit, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten auseinanderzusetzen, den Zugang zu Bildung und Kultur sowie zur überhaupt zur Öffentlichkeit. Das Problem der „Lügenpresse“ etwa liegt im Kern an ihrer weitgehend privatwirtschaftlichen, marktförmigen Organisation, an der sich die völkische Rechte kaum stört, solange die eigenen Positionen bestätigt werden. Stattdessen hat man sich auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingeschossen, dem man absurder Weise unterstellt, er sei stärker interessengeleitet als etwa der Springer-Konzern.

Vom Kapitalismus will die völkische Rechte allerdings auch gar nichts wissen, sie vertritt nicht einmal eine verkürzte Kapitalismus-Kritik, sondern gar keine. Und auch wenn sie gegen das „System“ agitiert, so hat sie keinen Begriff davon, gegen was sie sich eigentlich positioniert. Das ist aber auch vollkommen unerheblich, solange es einen hinreichend großen Resonanzraum in der Öffentlichkeit bis hin zum vielgeschmähten öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, der sich nicht entblödet, der „einzigen Oppostionspartei“ immer wieder ein Forum zu bieten.

Die Stärke der völkischen Rechten besteht gegenwärtig in ihrer lärmenden, schein-antagonistischen Haltung gegenüber den bürgerlichen Eliten, die an den realen Widersprüchen und dem verbreiteten Unmut ansetzt, um diesen in völkische Richtung zu kanalisieren. Mit ihren permanenten Tabubrüchen fördert sie dabei eine tiefere Wahrheit der liberalen Gesellschaft in Deutschland zu Tage: Die bürgerliche Kälte schonungsloser Interessenkalkulation, deren Unterseite der Hass auf alle diejenigen ist, die die eigene imperiale Lebensweise – und sei es nur durch ihre schlichte Anwesenheit – in Frage stellen könnten, seien es Migranten, einheimische „Sozialschmarotzer“, die antikapitalistische Linke oder Feministinnen, die der völkischen Rechten ein besonderer Graus sind. Die AFD und ihre Parteigänger sind ein Club älterer Herren, der, wie die Wahlen in Hessen deutlich gezeigt haben, vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Raum verankert ist. Deren fragiles Selbstverständnis ist insbesondere von selbstbewußten jungen Frauen bedroht, und mehr als jeden Migranten mit Macho-Verhalten fürchtet sich der rechte Mann vor Conchita Wurst. Die Brüchigkeit völkischer Männlichkeitskonzepte wird nirgendwo so deutlich wie an der Liste der Todesopfer faschistischer Gewalt: Neben Migranten und Asylbewerbern, darunter Frauen und Kinder, handelt es sich um zahlreiche Obdachlose und Behinderte – der „nationale Widerstand“ vergreift sich bevorzugt an Schwächeren.

Von einer wie auch immer verstandenen Opposition zu den politischen Eliten kann kaum die Rede sein. Völkischer Rassismus ist seit Sarrazin auch in der SPD geduldet, und selbst ein grüner Bürgermeister kann sich mit dem Schießbefehl zur angeblichen Verteidigung blonder Professorentöchter anfreunden. Nicht einmal in der Frage der Migration befindet sich die völkische Rechte im Gegensatz zur großen Koalition: Abschottung der Seewege in die EU für Migranten, Konzentrationslager in Nordafrika, forcierte Abschiebungen – zu all dem kann die völkische Rechte nur die – allerdings der Praxis des freien Warenverkehrs widersprechende – Idee der Kontrolle der nationalen Grenzen beisteuern. Die völkische Rechte unterscheidet sich von der bürgerlichen Anständigkeit vor allem darin, dass sie offen und unverhohlen deren terroristische Potentiale zum Ausdruck bringt. Der Fall Maaßen, unter dessen Leitung der Verfassungsschutz systematisch die Kooperation mit dem NSU zu vertuschen versucht hat, ist der exponierte Ausdruck dieses Potentials innerhalb der Staatsapparate.[9]

Ihre grundsätzliche Opposition, deren Einzigartigkeit die völkische Rechte für sich reklamiert, hat aber überhaupt keine auch nur halbwegs konkrete soziale und politische Dimension, sie ist nicht verallgemeinerungsfähig und nur behauptet. Das wäre auch angesichts der äußerst heterogenen sozialen Zusammensetzung ihrer Anhängerschaft, die sich aus den „Deklassierten aller Klassen“ (August Thalheimer) zusammensetzt, auch kaum anders möglich. Aus diesem Grund setzt sie vor allem auf eine „Kulturrevolution“ von rechts, mit der aus den Tendenzen „verwilderter Selbstbehauptung“ (Adorno) machtpolitisches Kapital geschlagen werden soll.

Die theoretische Legitimation des völkischen Aufbruchs ist daher ein heilloses Unterfangen, das nur mit heroischen Abstraktionen zu bewerkstelligen ist. Im Grunde ist die völkische Rechte ein Scheinriese, der intellektuell immer weiter schrumpft, je mehr man sich ihm nähert. Dass das kein Hindernis für politischen Erfolg ist, muss nicht besonders betont werden – die in allen sozialen Milieus verbreitete Mischung aus Allmachts- und Ohnmachtsgefühlen, sozialer Angst und Aggression bietet in Zeiten politischer Desorientierung hinreichend Humus für autoritäre und faschistische Projekte.

Die politische Linke geht den umgekehrten, emanzipatorischen Weg und versucht, den Pluralismus der Partikularinteressen in den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Konflikten so zu transformieren, dass eine verallgemeinerte Emanzipationsperspektive daraus entsteht. Die Konflikte und Aushandlungsprozesse, die damit einhergehen, mögen schwierig und manchmal schmerzhaft sein, sie sind aber notwendig, damit die Partikularinteressen darin auch tatsächlich aufgehoben (im Sinne von aufbewahrt) werden. Denn eine Verteidigung des Status Quo schließt sich angesichts der antagonistischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft aus, wie Abendroth betont: „Das Ende der Weimarer Republik hat historisch bewiesen, dass auf lange Sicht in unserer Zeit Demokratie als bloß formale Demokratie nicht mehr möglich ist, und dass mit der formalen Demokratie auch die durch den Liberalismus entwickelten kulturellen Werte verschwinden müssen, wenn es nicht gelingt, durch Umwandlung der formalen Demokratie des Staates in die soziale der Gesellschaft einer positiven Lösung zuzusteuern.“[10] Die Errungenschaften der sozialen Bewegungen der letzten 200 Jahre können daher nur aufgehoben (im Sinne von bewahrt und erweitert) werden, wenn sie offensiv gegen die Herrschenden verteidigt werden, denn „entweder erweitert sich die formale Demokratie der staatlichen Organisation zur sozialen der Gesellschaft und entfaltet dadurch ihr eigenes Wesen; oder aber: die wirtschaftlichen Machtträger der Partialinteressen in der Gesellschaft streifen die demokratische Form der politischen Organisation – des Staates also – ab und begeben sich dabei auch ihrer liberalen Tradition.“[11] Die völkische Rechte, und das ist die zentrale Gefahr die von ihr ausgeht, ist eine Machtressource der herrschenden Kapitalgruppen im Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie, der im nächsten Krisenzyklus erneut an Dynamik gewinnen wird.

Insofern die sozialen Bewegungen und die Organisationen der politischen Linken ein über ihre jeweiligen partikularen Ausgangspunkte und Interessen hinausweisende Programmatik der demokratischen Aufhebung der kapitalistischen Herrschaftsstrukturen vertreten und den praktischen Kampf dafür organisieren, vertreten sie in der Perspektive auch ein allgemeines Interesse. Dieses lässt sich aber nicht einfach durch eine selbsterklärte Avantgarde reklamieren, da es nur das immer wieder flüchtige Resultat kollektiver Prozesse sein kann. Dass die zukünftige Gesellschaft plural, dass die sozialistische Bewegung den bürgerlichen Liberalismus beerben soll, indem sie ihn verwirklicht, darüber gibt es innerhalb der Linken nach dem historischen Scheitern des Leninismus wenig ernsthafte Zweifel. Es ist ein Verdienst der postmodernen Theoriebildung, die „großen Erzählungen“, die im Kern doch zumeist Scharlatanerie gewesen sind, dekonstruiert zu haben. Diese Erkenntnis ist freilich nicht ganz neu: In der Internationale heißt es: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun, uns aus dem Elend zu erlösen, können nur wir selber tun.“ Und eben keine Avantgarde, erst recht keine selbsterklärte völkische Elite.

[1]                          Jens Berger spricht auf den Nachdenkseiten in Bezug auf die AFD treffend von einer „braunlackierten FDP“: „Sozial, ohne rot zu werden“ – der Etikettenschwindel der AFD, https://www.nachdenkseiten.de/?p=45975 Vgl. auch Nico Popp, „Wir sind keine Kommunisten“. Junge Welt v. 11.9.2018, https://www.jungewelt.de/artikel/339591.afd-und-soziale-frage-wir-sind-keine-kommunisten.html

[2]                          Der Historikerverband und die Gefährdungen der Demokratie. Sezession 3.10.2018. https://sezession.de/59462/der-historikerverband-und-die-gefaehrdungen-der-demokratie

[3]                          Vgl. Michael Krätke, Neoklassik als Weltreligion. In: Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftler, Die Illusion der neuen Freiheit. Realitätsverleugnung durch Wissenschaft. Kritische Interventionen Bd. 3. Hannover 1999. S. 100-144.

[4]                          Ebd.

[5]                          Vgl. „Warum muß es Populismus sein?“ FAZ v. 6.10.2018.

[6]                          Alexander Gaulands und Michael Seemanns Populismus. Sezession 17.10.2018, https://sezession.de/59476/alexander-gaulands-und-michael-seemanns-populismus

[7]                          Ebd.

[8]                          Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie. Zuerst in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1952, H. 11, S. 641ff. Wieder in: Gesammelte Schriften Bd. 2. Hannover, 2008. S. 221.

[9]          Vgl. Detlev zum Winkel, Hetzjagden frei erfunden? In: Telepolis. https://www.heise.de/tp/features/Hetzjagden-frei-erfunden-4218435.html

[10]                      Ebd.

[11]                      Ebd.