So erfindet Moskau Fakten zum Klinik-Angriff (ZDF)

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Faktencheck
Russische Rakete verantwortlich: So erfindet Moskau Fakten zum Klinik-Angriff

von Nils Metzger
10.07.2024 | 19:26

Eine russische Rakete zerstört Kiews größtes Kinderkrankenhaus. Moskau leugnet die Verantwortung und erfindet eine eigene Version. Bei der Verbreitung helfen Kreml-treue Blogger.

Der russische Angriff auf die größte Kinderklinik der Ukraine löst weiter internationale Empörung aus. Auch am Mittwoch dauerten die Aufräumarbeiten an. Die russische Regierung und Alternativmedien im Netz sind weiterhin aktiv dabei, eigene Narrative zur Bombardierung zu erfinden und mit Details auszuschmücken. So funktioniert die Desinformation aus dem Kreml.

Was Russland nun ohne Beleg behauptet

Am Dienstag sprach Kreml-Sprecher Dmitri Peskow den Angriff im russischen Staatsfernsehen an: „Das ist natürlich eine PR-Aktion, in dem Fall eine auf Blut basierende PR-Aktion.“ Laut ihm sei eine ukrainische Flugabwehrrakete im Krankenhaus eingeschlagen.

Auch das russische Verteidigungsministerium behauptet, ohne konkrete Belege zu zeigen, dass „zahlreiche veröffentlichte Bilder und Videoaufnahmen aus Kiew“ zeigen würden, dass die Zerstörung „durch eine ukrainische Flugabwehrrakete“ ausgelöst worden sei. Besonders aktiv bei der Verbreitung und Ausschmückung solcher Falschbehauptungen sind prorussische Blogger wie Jackson Hinkle, der mit erfundenen Geschichten und Antisemitismus ein Millionenpublikum im Netz erreicht.

Die deutschsprachige, aber aus Sankt Petersburg betriebene Webseite „Anti-Spiegel“ bereitet die Falschinformationen für ein hiesiges Publikum auf. Auch die wegen Desinformation in Deutschland gesperrte, aber über Umwege erreichbare Seite des Mediums „RT DE“ befeuert die Fake-Theorien rund um das Krankenhaus. Sie alle verweisen auf eine in den USA entwickelte AIM-120 Flugabwehrrakete der Ukraine als vermeintlichen Auslöser der Explosion. Fachleute halten das für praktisch ausgeschlossen.

Raketenexperte widerlegt russische Behauptungen

Fabian Hoffmann, Experte für Raketentechnologie an der Universität Olso, schreibt ZDFheute: „Eine AIM-120 und ähnliche Abfangraketen zerstören sich in der Luft selbst, sollten sie ihr Ziel verfehlen oder die Radarerfassung abbrechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine AIM-120 ihr Ziel verfehlt, sich nicht selbst zerstört, um dann genau auf einem Kinderkrankenhaus zu landen, ist so winzig, dass man sie nicht in Erwägung ziehen muss.“

Auch die schweren Schäden passten nicht zu so einer Rakete: „Mit 20 Kilogramm Gesamtgewicht und weniger als 10 Kilogramm Sprengstoff ist der Sprengkopf einer solchen Rakete auch nicht in der Lage, eine solche Zerstörung anzurichten wie man sie in Kiew gesehen hat“, betont Hoffmann. Alles spreche klar für einen russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101, der mit etwa 200 Kilogramm Sprengstoff ausgestattet sei.

Russische Trümmerteile am Einschlagsort gefunden

Die Rechercheplattform Bellingcat hat zahlreiche öffentlich zugängliche Aufnahmen ausgewertet: einerseits von ukrainischen Behörden geborgene Trümmerteile von der Einschlagstelle und andererseits Videoaufnahmen der anfliegenden Rakete kurz vor dem Einschlag.

An der Unterseite des Hecks des Flugkörpers ist deutlich eine Antriebseinheit zu erkennen, wie sie die Kh-101, nicht aber eine AIM-120 besitzt. Worauf pro-russische Blogger häufig verweisen, dass die charakteristischen Flügel der Kh-101 nicht deutlicher zu erkennen seien, lässt sich leicht durch die Perspektive des Videos erklären, wodurch die Flügel kleiner erscheinen.

Eine Bellingcat-Analyse des Social-Media-Videomaterials wie auch eines 3D-Modells des Flugkörpers deuten alle darauf, dass das Geschoss ein russischer Kh-101 Marschflugkörper ist.

Zur gleichen Zeit gab es weitere Angriffe auf den Großraum Kiew, bei denen 13 russische Kh-101 zum Einsatz gekommen seien, schreibt Bellingcat. Anders als ungelenkte Raketen können solche Marschflugkörper während des Flugs gesteuert werden, treffen also meist metergenau das intendierte Ziel.

Auch das UN-Menschenrechtsbüro verwies am Dienstag auf erste eigene Untersuchungsergebnisse, die einen russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101 für die Explosion verantwortlich machen. Experten hätten Videoaufnahmen und Schäden vor Ort ausgewertet, so Danielle Bell, Leiterin des UN-Büros.

Ziel der Desinformation ist es, Menschen zu verunsichern

Dass Russland mit seinen Behauptungen in der Fachwelt ziemlich allein steht, muss nicht heißen, dass russische Medien mit erfundenen Behauptungen keine Wirkung erzielen. Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Katharina Nocun hat mehrere Bücher über Desinformation und Verschwörungsglaube geschrieben. Sie sagt in der Sendung ZDFheute live:
Propaganda hat dann ihr Ziel erreicht, wenn Menschen verunsichert werden. Es reicht, wenn Unsicherheit gestreut wird.

In Russland selbst funktionierten solche Behauptungen, da es keine Pressefreiheit mehr gibt und unabhängige Organisationen keine Erlaubnis mehr für Recherchen haben, erklärt Nocun. International zahlt sich nun aus, dass Russland seit vielen Jahren Netzwerke an Alternativmedien pflegt, die anti-westliches Verschwörungsdenken befeuern.

„Es ist extrem schwierig bei Menschen durchzudringen, die glauben, dass all das Teil eines großen Plans sei“, sagt Nocun. Da würde die Argumentation mit Fakten nur schwer funktionieren. Eine Kernbotschaft, die russische Desinformation weiterträgt, sei, dass „man westlichen Medien nicht vertrauen darf“. Doch wer solchen Weltbildern anhängt, müsse auch diese Frage beantworten, so Nocun: „Wie können sie Informationen glauben, die aus einem Regime kommen, das die Pressefreiheit mit Füßen tritt?“.