Missbrauch des Evangeliums

Theologie Aktuell
Der Blog der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Erfurt
Missbrauch des Evangeliums durch Putin und Kyrill – Kritische Exegese als Voraussetzung und Fundament einer „westlichen“ Kirche
24.11.2022

Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer ist Inhaber der Professur für Exegese und Theologie des Neuen Testaments.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist zutiefst mit religiösen und theologischen Fragen verbunden. Der russische Präsident Wladimir Putin und Patriarch Kyrill I. von Moskau haben die „militärische Spezialoperation“ zum metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse erklärt, wobei das christlich orthodoxe Russland den Part des Guten und ein als dekadent und moralisch verkommen erklärter „Westen“ den Part des Bösen einnehme. In dem angeblich der Befreiung von verfolgten Gläubigen der russisch-orthodoxen Kirche dienenden Angriff Russlands werden in der Ukraine Kirchen und Klöster zerstört, und in einem mit Rekurs auf das Evangelium und die Verteidigung christlicher Werte gerechtfertigten Krieg werden Leben und Rechte unzähliger Menschen missachtet. Die merkwürdig unentschiedene Haltung von Papst Franziskus zum Moskauer Patriarchen und die vatikanische Diplomatie gegenüber Russland sind Gegenstand kontroverser Diskussionen.

Aus der Sicht einer kritischen, rational und historisch argumentierenden Exegese, zu der sich die römisch-katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekannt hat, kann es jedoch nur eine scharfe und dezidierte Verurteilung geben, wenn Putin und Kyrill mit Jesus-Worten zum Krieg gegen den „Westen“ rufen. Mit der Akzeptanz einer kritischen, rational und historisch argumentierenden Exegese hat sich die römisch-katholische Kirche zum „Westen“ bekannt, mit dessen Geschichte und Kultur sie unauflösbar verwoben ist.

Putin, der Krieg gegen den „Westen“ und das Evangelium

Am Abend des 21. Februar 2022 bereitete Wladimir Putin mit einer im Staatsfernsehen übertragenen Rede die Öffentlichkeit auf den geplanten militärischen Einfall in die Ukraine vor und entwarf dazu das Bild eines großen Konflikts, in dem Russland seine Souveränität und Werte gegen die Übergriffe des „Westens“ verteidigen müsse. Einem als imperial-aggressiv und unzivilisiert gebrandmarkten „Westen“ stellte er ein friedfertiges Russland entgegen, das von moralischen Werten bestimmt handelt und für den Frieden sowie für die Selbstbestimmung und Freiheit der Völker eintritt. In der Nacht nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar wiederholte er in einer weiteren Rede die Anklagen gegen einen unfreien und unter der Hegemonie der USA stehenden „kollektiven Westen“, der vielfach das Völkerrecht missachtet habe und dessen Politik sich gegen allgemein anerkannte moralische Normen richte. Der „kollektive Westen“ wolle die traditionellen Werte Russlands zerstören und durch Pseudowerte ersetzen, die sich gegen die menschliche Natur richten und zu Entartung und Dekadenz führen.

Angesichts der unerwarteten Schwierigkeit, die Ukraine schnell unter Kontrolle zu bringen, und angesichts einer unerwartet großen Zahl gefallener russischer Soldaten, griff Putin bei der Propaganda-Veranstaltung zum Jahrestag der Annexion der Krim im Moskauer Luschniki-Stadion am 18. März 2022 in seiner Rede auf ein Jesus-Wort zurück, um den Durchhaltewillen und die Opferbereitschaft bei der Bevölkerung in Russland bzw. der Russischen Föderation zu stärken. Im Blick auf die russischen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, fühle er sich – so Putin – an das Wort der Heiligen Schrift erinnert: „Eine größere Liebe hat keiner, als wenn einer sein Leben gibt für seine Freunde“. Mit diesem Jesus-Wort des Johannesevangeliums (Joh 15,13) stellte Putin den russischen Überfall auf die Ukraine und den russischen Kampf gegen den „kollektiven Westen“ unter das Vorzeichen der Nachfolge und Nachahmung Jesu.

Erneut bediente sich Putin eines Jesus-Wortes in seiner Rede anlässlich der völkerrechtswidrigen Annexion der ostukrainischen Gebiete am 30. September im Georgssaal des Großen Kremlpalastes in Moskau. Putins Anklage gegen den „Westen“ kulminierte in dem Vorwurf der totalen Entmenschlichung, der Zerstörung des Glaubens und der traditionellen Werte sowie der Unterdrückung der Freiheit. Der „Westen“ steht für Putin in einer fundamentalen Opposition zum christlichen Glauben und er qualifizierte ihn deshalb als „perverse Religion“ und „reinen Satanismus“. Um seinem Urteil höchste Autorität zu verleihen, identifizierte Putin den „Westen“ bzw. seine Führer als die von Jesus angekündigten falschen Messiasse (vgl. Mt 24,5.23; Mk 13,22), die nach einem Jesus-Wort in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums an ihren Früchten zu erkennen sind (Mt 7,17; vgl. 12,33). Die „giftigen Früchte“ des „Westens“ sind in der Rede Putins vor allem gay rights / LGBTQ+ rights und Gender-Theorien.

Kyrill, der Kriegsdienst und der Opfertod Jesu

Am 23. Februar 2022, dem Tag vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, hatte Patriarch Kyrill I. wie jedes Jahr Putin seine Glückwünsche zum Tag des Verteidigers des Vaterlandes übermittelt und erklärt, die russisch-orthodoxe Kirche sehe den Militärdienst als Verwirklichung der Nächstenliebe nach dem Evangelium (vgl. Mt 19,19; 22,39; Mk 12,31.33; Lk 10,27) und als Beispiel für die Treue zu den hohen moralischen Idealen der Wahrheit und Güte.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bezeichnete Kyrill die Gegner Russlands als „Kräfte des Bösen“ und in seiner Sonntagspredigt am 6. März in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau sprach er von einem Kampf von metaphysischer Bedeutung. Russland kämpfe in der Ukraine in Treue zu Gottes Weisung und zur Kirche gegen jene, die dieses Gesetz zerstören wollen. Die „Kräfte des Bösen“, gegen die sich Russland im Kampf befinde, sieht Kyrill in den Staaten des „Westens“, die für ihn aufgrund der dort praktizierten Offenheit gegenüber Homosexualität in fundamentaler Opposition zu den Werten des christlichen Glaubens stehen.

Die Verwirklichung der Nächstenliebe im metaphysischen Kampf gegen einen als gottlos und gottfeindlich abqualifizierten „Westen“ bedeutet für Kyrill nicht nur die Bereitschaft, das eigene Leben für Russland und die russisch-orthodoxe Kirche im Dienst des Evangeliums und seiner Werte hinzugeben, sondern schließt ein, dass man bereit ist, in den realen Krieg zu ziehen und in diesem Krieg ohne Rücksicht auf sich selbst und das eigene Leben andere zu töten.

Diese Überzeugung von einem metaphysischen Kampf von Gut und Böse, in dem Russland die traditionellen christlichen Werte und Normen des Evangeliums gegen einen für ihn sittenlosen und gottfeindlichen „Westen“ verteidige, wiederholte und wiederholt Kyrill immer wieder und begründet damit den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine sowie den Tod und das Leid der Opfer dieses Krieges.

Angesichts der großen und stetig wachsenden Zahl der im Krieg gegen die Ukraine gefallenen russischen Soldaten steigerte Kyrill am 26. September in einer Predigt die religiöse Überhöhung des Kriegsdienstes, indem er den Tod bei der Erfüllung der militärischen Pflichten im Krieg gegen die Ukraine mit dem Tod Jesu am Kreuz verglich und dadurch zu einer rettenden Hingabe und zu einem heilstiftenden Opfer stilisierte. Weil die russischen Soldaten im Krieg gegen die Ukraine ihr Leben für andere opferten, sei ihr Tod – so Kyrill – ein Opfer, dass sie von allen Sünden reinige. Den in der Ukraine gegen den „Westen“ kämpfenden Soldaten verspricht Kyrill damit, dass sie durch ihren Tod als Märtyrer unmittelbar das ewige Heil erlangen.

In dieser Predigt, mit der er den Tod russischer Soldaten im Krieg gegen die Ukraine zum Tod Jesu am Kreuz in Bezug setzte, spielte Kyrill offenbar auf ein Wort aus dem Johannesevangelium an: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Er mag auch eine ähnliche Aussage des Paulus im Brief an die Römer im Blick gehabt haben: „Er [Gott] hat seinen eigenen Sohn [Jesus] nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32). Vielleicht enthält der Rekurs auf diese Bibelworte einen impliziten Appell an alle Russinnen und Russen, es Gott gleich zu tun und ihre Söhne (und Töchter) im metaphysischen Kampf gegen den „Westen“ nicht zu schonen, sondern sie willig in Russlands Armee im Krieg in der Ukraine zu opfern.

Bigotterie und Doppelmoral bei Kyrill und Putin

Die Indienstnahme Jesu und des Neuen Testaments bei Putin und Kyrill kulminiert in einem gemeinsamen Punkt, auch wenn beide dafür auf andere Stellen rekurrieren. Beide bedienen sich Jesu und des Neuen Testaments nicht einfach nur zur Rechtfertigung des Angriffskriegs Russland gegen die Ukraine, sondern beide sehen den Kampf in der Ukraine für jeden Russen und jede Russin als eine heilige moralische Pflicht, die nicht nur die Bereitschaft einschließt, das eigene Leben zu opfern, sondern in der Nachfolge Jesu und in der Treue zur wahren Religion und als Verwirklichung des Gebotes der Nächstenliebe andere zu töten, um die traditionellen „Werte“ Russlands, das in völliger Übereinstimmung mit dem Evangelium lebt, zu verteidigen. Für Kyrill schließt dies die Bereitschaft ein, in der Nachahmung Gottes und in Entsprechung zu Sühne und Heil stiftenden Hingabe des Sohnes am Kreuz die eigenen Kinder im Krieg gegen den sittlich verkommenen „Westen“ zu opfern.

Vom sicheren Moskau aus, weit weg von der Front und ihren blutigen Kämpfen, fordern Putin und Kyrill von ihren Landsleuten Lebenshingabe und Opfer, die sie selbst nur verbal zu leisten bereit sind.

Außerdem wirken der Aufruf zum Kampf in einem metaphysisch aufgeladenen Krieg gegen den „Westen“ und seine angebliche Dekadenz und seinen Sittenverfall irritierend und skurril, wenn man auf jene blickt, die diesen Krieg so vehement um höherer religiöser, geradezu „heiliger“ Werte und Ziele willen propagieren. Bei seinem Auftritt im Luschniki-Stadion zeigte sich Putin in der Daunenjacke eines italienischen Luxus-Labels im Wert von angeblich 12.000 US-Dollar und damit wohlig eingehüllt in ein Produkt „westlicher“ Dekadenz. Auch Kyrill scheint, wie nicht nur seine Liebe zu edlen und teuren Uhren aus Schweizer Produktion zeigt, dem Luxus des für ihn dekadenten und verkommenen „Westen“ alles andere als abgeneigt. Auch sonst hat der innere Kreis um Putin und Kyrill wenig Berührungsängste mit Luxus und Dekadenz des „Westens“, wie zuletzt an Außenminister Lawrow zu sehen, der beim G-20-Gipfel in Bali eine Uhr des US-Konzerns Apple am Armgelenkt trug und scheinbar schon das aktuellste Smart-Phone desselben Konzerns sein eigen nennt.

Vermutlich bestehen Dekadenz und Unmoral des „Westens“ für Putin und Kyrill also nicht in grenzenlosem Luxus und der rücksichtslosen Selbstbereicherung einer kleinen privilegierten Gruppe, sonst wären beide im Namen einer höheren Moral und mit Berufung auf Jesus und das Evangelium längst gegen Armut in Russland vorgegangen und hätten eine gerechte soziale und ökonomische Ordnung durchgesetzt. Das Evangelium und eine darauf gründende Moral lassen sich für Putin und Kyrill auf sehr wenig reduzieren. Es geht offenbar nicht um mehr als die strikte Ablehnung von gay rights / LGBTQ+ rights und Gender-Theorien. Der Gott Putins und Kyrills akzeptiert oder fordert sogar Krieg und Tod, damit Gay-Pride-Paraden, Homo-Ehe, Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern und dergleichen mehr seine Ordnung nicht stören.

Kritische Exegese als Absage an Kyrill und Putin

Niemand, der das Neue Testament liest, kann auf die Idee kommen, dass darin der Kern oder zumindest ein zentrales Anliegen irgendeiner der neutestamentlichen Schriften und ihrer Theologien liege, so vielstimmig und mitunter widersprüchlich sie in ihren Aussagen sein mögen. Die wenigen Aussagen, die sich irgendwie mit den Anliegen verbinden lassen, von denen Putin und Kyrill besessen sind, sind im Blick auf das ganze Neue Testament nicht einmal marginal. Zudem sind die wenigen Aussagen, die immer wieder als Begründung für die Verurteilung von Homosexualität bemüht werden, in ihrer Bedeutung weit weniger klar, als auch moderne Übersetzungen glauben machen (vgl. 1Kor 6,9; 1Tim 1,10). Außerdem darf nicht übersehen werden, dass Homosexualität ebenso wie sexuelle Orientierung und sexuelle Identität der Antike als Begriff und Konzept nicht bekannt war und deshalb im Neuen Testament überhaupt nicht im Blick sein kann (so zu beachten bei Röm 1,24–27).

Auch Aussagen über die Ordnung der Familie sind im Neuen Testament überraschend selten (Kol 3,18–4,1; Eph 5,22–6,5; 1Petr 2,13–3,7). Der zeitbedingte Charakter dieser Aussagen und ihre eigentliche Intention lassen sich bei einer kritischen Lektüre und Analyse leicht erkennen. Hier soll nicht ein zeitlos gültiges Modell der christlichen Familie aus Mann, Frau und Kindern als göttliche Setzung autoritativ festgesetzt werden. Diese Texte greifen vielmehr das Modell des gewöhnlichen antiken Haushalts auf und wollen – wohl mit apologetisch-propagandistischem Blick auf die Wahrnehmung der Gemeinde in ihrer Umwelt – nicht mehr sagen, als dass die Mitglieder der christlichen Gemeinde sich in der Organisation ihres Haushalts und in ihrem Familienleben nicht grundsätzlich von ihrer Umwelt unterscheiden, sondern in vorbildlicher Weise realisieren, was den allgemeinen Vorstellungen und Erwartungen ihrer Welt und Zeit entspricht.

Wer dies ignoriert und leugnet und diese Texte als normative, unabänderlich gültige Vorgaben für die christliche Familie liest, muss sich fragen lassen, warum er oder sie nicht auch Sklavinnen und Sklaven als zwingend notwendigen Bestandteil einer idealen, der göttlichen Offenbarung gemäßen Familie fordert. Denn die relevanten neutestamentlichen Texte gehen selbstverständlich davon aus, dass zum christlichen Haushalt Sklavinnen und Sklaven gehören und definieren ihre Stellung im Haushalt.

Die normativen Vorgaben der neutestamentlichen Aussagen über Familie und Haushalt sind – aus der Sicht einer kritischen Exegese – nicht mehr, als dass der christliche Haushalt und die christliche Familie sich nicht von dem unterscheiden, was nach Maßgaben ihrer Umwelt als gute und ideale Familie gilt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass de facto christliche Moral und Lehre sich stets den veränderten gesellschaftlichen Vorstellungen zu Familie und Haushalt angepasst haben. Denn die von Emotionalität geprägte Vorstellung von Familie in der Neuzeit ist nicht die Familie der vorindustriellen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters; und zu allen Zeiten hat christliche Moral ein Nebeneinander von unterschiedlichen Formen und Modellen des Familienlebens akzeptiert, da in allen Gesellschaften je nach Schicht und materiellen Möglichkeiten Familie und Haushalt sehr unterschiedliche Ausprägungen fanden und finden. Eine stete Anpassung an das, was Gesellschaften als gute und ideale Familie erkennen und leben, steht folglich keineswegs im Widerspruch zum Zeugnis des Neuen Testaments und damit zum Willen Gottes.

Kern und Fundament der neutestamentlichen Schriften und ihrer Theologien wird man – in der Perspektive einer kritischen Exegese, aber auch mit der christlichen Tradition – in der rettenden Zuwendung Gottes zu den Menschen in Leben, Tod und Auferweckung des Jesus von Nazaret und in der Ansage des eschatologischen Heils suchen. Putin und Kyrill rekurrieren auch auf diese zentrale Botschaft des Neuen Testaments, machen daraus aber die Aufforderung zum Einsatz des eigenen Lebens im Krieg und die Forderung, andere im Kampf gegen gay rights / LGBTQ+ rights und Gender-Theorien zu töten. Bezeichnend ist dabei, dass sie Kontext und Intention jener Aussagen, auf die sie sich in ihrer Kriegspropaganda und -rechtfertigung berufen, außer Acht lassen. Nachahmung und Nachfolge Jesu in seiner Lebenshingabe lassen keinen Raum für Gewalt gegen andere und taugen nicht als Legitimation eines perfiden Angriffskriegs. Jesus fällt nicht als Anführer in einem blutigen Kampf für welche Ideale oder moralischen Ziele auch immer. In der Bergpredigt, auf die sich Putin gegen den Westen beruft, fordert der matthäische Jesus eine geradezu unvernünftige Feindesliebe und einen radikalen Gewaltverzicht (vgl. Mt 5,38–42.43–48).

Gewiß lässt sich nicht bestreiten, dass das Neue Testament aus der jüdischen Apokalyptik die Vorstellung von Bedrängnissen und Nöten am Ende der Geschichte übernimmt und dass dazu auch schreckliche Kriege gehören (z.B. Mk 13,7; Mt 24,6; Offb 6,4). Im Neuen Testament findet sich sogar das ebenfalls jüdisch-apokalyptischen Vorstellungen entnommene Bild von Jesus als kriegerischen Messias, der am Ende der Zeiten an der Spitze eines Engelheeres zur Endschlacht gegen die Mächte des Bösen erscheint (Offb 19,11–21). Zu beachten ist aber, dass das Neue Testament die Anhänger Jesu nicht aufruft, in diesen Kriegen der Endzeit zu den Waffen zu greifen oder gar selbst einen Krieg gegen die dämonischen Mächte des Bösen und ihre Anhänger zu beginnen.

„Westlichkeit“ der Kirche auf dem Fundament kritischer Exegese

Die öffentlichen Äußerungen von Putin und Kyrill zeigen, dass die obersten Repräsentanten von Staat und Kirche nicht einfach nur beim Krieg gegen die Ukraine fest auf einer Seite stehen, sondern gemeinsame Ziele verfolgen. Beide sehen den „kollektiven Westen“ als Bedrohung für Russland und beide lehnen liberale Demokratie, Akzeptanz von Homosexualität, religiöse und gesellschaftliche Pluralität ab und beide rechtfertigen dies mit Bezug auf die christliche Tradition und unter Berufung auf Jesus und das Neue Testament. Eine Begründung des Krieges mit Verweis auf bloß politisch-strategische Erwägungen und Ziele scheint beiden nicht zu genügen. Beide bemühen sich um eine metaphysische Begründung, die dem Angriffskrieg eine tiefere religiöse Rechtfertigung und darin Sinn verleiht und die den Überfall auf die Ukraine zu einem gerechten und heiligen Krieg stilisiert.

Argumentationen und Positionen, wie sie im Mund von Putin und Kyrill erscheinen, sind auch der kirchlichen und christlichen Tradition in den Ländern des als dekadent und moralisch verkommen diskreditierten „Westens“ nicht fremd, und der Blick in die Geschichte der Kirchen gibt hinreichend Anlass für Kritik und kritische Reflexionen, auch mit Blick auf die Gegenwart.

In der konstruktiven Auseinandersetzung mit der Kultur- und Geistesgeschichte des „Westens“ hat sich jedoch eine christliche Tradition entwickelt, die die Geschichtlichkeit und kulturelle Bedingtheit der biblischen Schriften anerkennt und der wissenschaftlichen Exegese die Aufgabe stellt, diese Schriften unabhängig von ihrer kirchlichen Rezeption ausgehend von ihrem Wortlaut und im Blick auf ihren historischen Entstehungskontext zu analysieren und zu interpretieren. Damit öffnet sich die christliche Tradition dem im „Westen“ mit der Aufklärung etablierten Verständnis von Wissenschaftlichkeit, das auf dem kritischen Gebrauch der Vernunft beruht, und sie akzeptiert eine Exegese, die sich von kirchlicher Autorität emanzipiert, um die Zeugnisse der Offenbarung mit Hilfe einer geschulten und kritischen Vernunft zu analysieren und zu interpretieren. Ziel ist eine Auslegung der biblischen Schriften, die für alle Menschen unabhängig von ihren persönlichen Glaubensüberzeugungen nachvollziehbar und in ihren Prinzipien und Methoden nachprüfbar ist

Eine solche historisch-kritische Exegese wurde in den Kirchen des Westens nicht ohne Kampf und Widerspruch rezipiert, und sie stößt auch heute noch auf Vorbehalte. In der römisch-katholischen Kirche dauerte es beinahe drei Jahrhunderte, bis nach großen Widerständen der Kirchenleitung und nach heftigen Auseinandersetzungen das Zweite Vatikanische Konzil im Offenbarungsdekret Dei Verbum, die Prinzipien der historisch-kritischen Exegese für die Interpretation und Rezeption der biblischen Schriften in Theologie und Kirche anerkannte und letztlich sogar zur Aufgabe machte (DV 11–13).

Mit der Rezeption einer auf Vernunft und historischer Kritik beruhenden Exegese öffneten sich Kirche und Theologie der Kultur und Geistigkeit des „Westens“ und wurden so fähig, auch ihre eigene Geschichte und ihr Handeln in der Geschichte der Kritik zu unterziehen. Damit kann die Kirche ihre eigene Tradition kritisch reflektieren und ihr problematisches Verhältnis zu Kriegen im Namen von Glauben und Evangelium, aber auch zu Menschenrechten und Menschenwürde erkennen und korrigieren.

Diese Öffnung für die kritische Vernunft zerstört nicht den Glauben, sondern hilft Theologie und Kirche, die Schrift und die Tradition besser zu verstehen und den tatsächlichen Kern des Evangeliums nicht aus dem Blick zu verlieren.

Eine solche Kirche und Theologie werden sich nicht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zum „Westen“ verstehen, sondern anerkennen, dass dieser „Westen“ auf der Basis der kritischen Vernunft im Zusammenleben der Menschen Werte vertritt, die zutiefst dem Evangelium und einer gesunden christlichen Tradition konform sind. Zu diesen Werten gehören insbesondere die Menschenwürde und Menschenrechte, wie sie im freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat realisiert und garantiert werden. Eine solche Kirche und Theologie können eingestehen, dass sie mit Blick auf das Heil keinen Auftrag und keine Kompetenz haben, alle Bereiche menschlichen Lebens und Zusammenlebens zu regeln und zu normieren, sondern dass sie den Menschen den nötigen Raum geben müssen, das eigene Leben in Freiheit zu gestalten und sich frei zu entfalten. Eine solche Kirche und Theologie werden sich durch das Evangelium und den christlichen Glauben gerufen wissen, an der Seite aller Menschen, die guten Willens sind, zu stehen, um mit ihnen entschieden jeder Form von Diskrimierung und Ausgrenzung zu widersprechen und an der Verständigung und am friedlich-toleranten Zusammenleben der Menschen mitzuwirken.

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