Genozid im Donbass

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Faktencheck
Genozid im Donbass – was ist dran an den russischen Vorwürfen?

03.04.2022
Daniel Huber

Tausende von Zivilisten und Soldaten sind seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine ums Leben gekommen, Millionen Ukrainer sind auf der Flucht, Grossstädte wie Mariupol oder Charkiw liegen in Trümmern. Und ein Ende des Krieges – vom Kreml verharmlosend «spezielle Militäroperation» genannt – ist nicht in Sicht.

Der russische Präsident Wladimir Putin begründete den Überfall auf das Nachbarland in einer Rede kurz nach Beginn des Einmarschs unter anderem damit, «die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang unter Misshandlungen und Genozid vonseiten des Kiewer Regimes litten.»

Zu diesem Zweck werde Russland versuchen, «die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu bringen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschliesslich russische Bürger, begangen» hätten.

Entspricht diese schwerwiegende Behauptung, die den russischen Einmarsch in die Ukraine legitimieren soll, der Wahrheit?

Der Begriff «Genozid» wurde in den 1940er-Jahren vom polnisch-jüdischen Rechtsanwalt und Friedensforscher Raphael Lemkin geprägt. Die UNO anerkannte Genozid 1948 in der UN-Völkermordkonvention als Strafbestand im Völkerstrafrecht; die Resolution trat 1951 in Kraft und wurde bis 2015 von 147 Staaten ratifiziert.

Als Genozid gelten Handlungen, die darauf abzielen, auf direkte oder indirekte Weise «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören». Dazu zählt nicht nur Massenmord, sondern etwa auch die Trennung der Kinder von den Eltern und ihre getrennte Erziehung. Genozid verjährt nicht.

Um einen Genozid zu verhindern oder zu beenden, besteht das Instrument der sogenannten Schutzverantwortung (engl. «Responsibility to Protect», R2P). Dieses völkerrechtliche Konzept, das 2005 von fast allen Staaten ausdrücklich anerkannt wurde, soll Menschen vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schützen. Ist ein Staat nicht fähig oder willens, seine Bevölkerung selber zu schützen, darf die internationale Staatengemeinschaft zur Not auch militärisch eingreifen, wobei der UNO-Sicherheitsrat über den Einsatz zu entscheiden hat.

Vor allem nach der Erfahrung des Holocausts wird Genozid als besonders verabscheuungswürdiges Verbrechen – oft als «Verbrechen der Verbrechen» umschrieben – angesehen. Es handelt sich deshalb um einen schweren Vorwurf, der sich auch in Konflikten politisch instrumentalisieren lässt. Die Frage, ob es sich bei bestimmten Ereignissen um Genozid handelt oder nicht, ist daher oft heftig umstritten.
Russische Vorwürfe

Bereits 2015, ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn der bewaffneten Zusammenstösse zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Truppen im Donbass, hatte Putin von «Genozid» gesprochen. Die Aussage fiel im Zusammenhang mit einem Stopp von ukrainischen Gaslieferungen in die von Separatisten besetzten Gebiete: «Stellen Sie sich vor, dass diese Menschen im Winter ohne Gas dastehen werden. Nicht nur, dass es eine Hungersnot gibt … Es riecht nach Genozid.»

Im Dezember 2021, als sich bereits russische Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzogen, wiederholte Putin den Vorwurf im Gespräch mit einem regierungsnahen Journalisten: «Sie und ich wissen, was im Donbass geschieht. Es sieht sicherlich wie ein Völkermord aus, wie Sie sagten.» Und kurz vor dem Einmarsch der russischen Truppen sagte Putin am 15. Februar: «Nach unserer Einschätzung ist das, was heute im Donbass geschieht, Genozid.»

Einen Tag später teilte ein russisches Ermittlungskomitee mit, in der Donbass-Region seien Massengräber mit hunderten von Leichen russischsprachiger Zivilisten gefunden worden. Es seien «mindestens 295 Zivilisten» gefunden und exhumiert worden. Das Komitee sprach von «Tötung und Verwundung Tausender Zivilisten und russischsprachiger Gruppen» und machte ukrainische Truppen dafür verantwortlich: Die Zivilisten seien durch ukrainischen Artilleriebeschuss im Jahr 2014 ums Leben gekommen. Es handelte sich um Massengräber an fünf Orten – vier davon in der sogenannten Volksrepublik Luhansk (LNR), eines in der sogenannten Volksrepublik Donezk (DNR), mithin alle im von prorussischen Separatisten kontrollierten Teil des Donbass.

Kurz darauf doppelte der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow, auf Facebook nach. Auf die Frage, wie er die Erklärung von US-Beamten kommentiere, die den Genozid an Russen im Donbass infrage stellten, antwortete er: «Wie sonst kann man den Beschuss von Wohngebieten durch ukrainische Streitkräfte mit Mehrfachraketenwerfern oder die entdeckten Massengräber von fast 300 Zivilisten in der Nähe von Lugansk [Antonov verwendete die russische Bezeichnung für Luhansk, Anm. d. Red.] interpretieren, die nur deshalb getötet wurden, weil sie Russisch als ihre Muttersprache betrachteten?»

Auch der Anführer der sogenannten Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, erhob im Februar diesen Vorwurf und nannte dabei Zahlen: «Seit 2014 wurden auf dem Gebiet der DNR 130 Massengräber mit Opfern der ukrainischen Aggression entdeckt.» Der grösste Teil von ihnen seien Zivilisten. «Die meisten starben an Schusswunden, durch Minen oder nach Schlägen.» Insgesamt seien in der DNR seit 2014 rund 5000 Menschen einen gewaltsamen Tod gestorben.

Die Fakten

Genozid

Die russischen Anschuldigungen, im Donbass sei ein Genozid vonseiten der ukrainischen Truppen im Gange, werden von unabhängigen Quellen nicht gestützt. Weder die OSZE-Beobachtermission, die – notabene mit russischem Einverständnis – seit 2014 beiderseits der «Kontaktlinie» (also der Frontlinie) in der Ostukraine die Lage beobachtet und in ihren Berichten alle Toten und Verletzten aufführt, noch der einschlägige Bericht des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte (UNHCHR) vom September 2021 sehen Anzeichen für einen Genozid.

Die Berichte der OSZE-Beobachtermission zeigen, dass der grösste Teil der Opfer des seit 2014 andauernden Kriegs im Donbass in dessen erster Phase in den Jahren 2014 und 2015 ums Leben kam. Danach nahm die Zahl der Opfer kontinuierlich ab, was den Kriegsverlauf widerspiegelt. Seit 2016 nahm die Intensität der Kampfhandlungen ab; diese beschränkten sich mehr und mehr auf gegenseitigen Beschuss über die Kontaktlinie hinweg bei den zahllosen Verstössen gegen die Waffenruhe.

Bereits zu Beginn des Krieges veröffentlichten die OSZE, der Europarat und das UNHCHR Berichte über den Konflikt, in denen kein Genozid festgestellt wurde. Gemäss dem letzten verfügbaren Bericht der Beobachtermission vom September 2020, der einen zusammenfassenden Überblick gibt, kamen vom 1. Januar 2017 bis Mitte September 2020 insgesamt 161 Zivilisten ums Leben – wobei sich die Opfer etwa gleichmässig auf die beiden Seiten verteilten. Fast die Hälfte der Opfer starben durch Minen, Blindgänger und andere explosive Materialien. Ohnehin ist es fraglich, wie die ukrainischen Truppen in den Separatistengebieten des Donbass einen Genozid durchführen könnten, denn nicht sie kontrollieren diese Gebiete, sondern die Separatisten.

Hinzu kommt, dass Kriegshandlungen nicht schon deshalb ein Indiz für einen Genozid darstellen, weil sie zivile Opfer fordern. Damit dieser schwere Tatbestand festgestellt werden kann, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein – allen voran die Absicht, eine bestimmte Gruppe gezielt zu vernichten. Davon kann im Donbass keine Rede sein, wie auch das auf investigative Recherchen spezialisierte russische Internetmagazin «The Insider» – die in Russland als unerwünschte Organisation gilt und ihre Redaktion 2021 ins Ausland verlegen musste – in Entgegnung auf Putins Äusserung vom 15. Februar schrieb:

«Welche nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe wollen sie im Donbass vernichten? Es gibt zwei grosse ethnische Gruppen, die dort leben: Ukrainer und Russen. Es liegen keine Informationen über eine Aktion vor, die sich gezielt gegen Angehörige der beiden Gruppen richtet. Die Medien des Kremls, insbesondere RT, berichten regelmässig über zivile Opfer in den nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten (…). Ungeachtet des Wahrheitsgehalts dieser Berichte steht keine bestimmte Gruppe im Mittelpunkt; in den Berichten ist meist von Beschuss die Rede, der wahllos Zivilisten trifft.» Die unerträglichen Lebensbedingungen im Donbass seien eine Folge des Kriegs und es gebe keine Hinweise darauf, dass sie absichtlich zum Zweck der physischen Vernichtung von Menschen geschaffen wurden.

Ebenso wenig gebe es Berichte über die Verhinderung von Geburten und die Zwangsverbringung von Kindern, und auch nicht über Zwangsumsiedlungen. Die Ereignisse in der Ostukraine würden somit keiner der von Russland anerkannten Definitionen von Völkermord entsprechen, stellt das Magazin fest.

Massengräber

Was die vom russischen Ermittlungskomitee erwähnten Massengräber betrifft, so wurden diese laut dessen Bericht zwischen August und Oktober 2021 entdeckt. Die Opfer seien im Sommer und Herbst 2014 getötet worden. Die im Bericht genannte Zahl von fünf Massengräbern deckt sich nicht mit der Angabe von Puschilin, der kurz zuvor von 130 Massengräbern gesprochen hatte.

Die Menschenrechtsorganisation Truth Hounds, die seit 2014 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, hat Informationen über die fünf Massengräber des russischen Berichts gesammelt. Die NGO analysierte zu diesem Zweck Erwähnungen dieser fünf Orte aus dem Jahr 2014 in offiziellen Erklärungen Russlands und der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in den Medien, in sozialen Netzwerken sowie in den Aussagen von Zivilisten. Überdies konsultierte Truth Hounds die forensische Abteilung der Universität Bohomolets, um die Angaben des russischen Berichts über die Existenz dieser Gräber und die Beteiligung der ukrainischen Truppen zu prüfen.

Snischne: Der Ort stand seit Frühsommer 2014 unter Kontrolle der von Russland unterstützten Separatisten. Am 15. Juli 2014 kamen bei einem Luftangriff 11 Zivilisten ums Leben. Die russische Seite machte die ukrainische Luftwaffe dafür verantwortlich, während die ukrainische Seite mitteilte, es habe sich um ein unbekanntes Flugzeug gehandelt. Nur in diesem einen Fall hätten ukrainische Streitkräfte zumindest theoretisch an einem Angriff auf die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen sein können, schreibt Truth Hound». Ansonsten waren sie weder in Snischne selbst, noch in der Nähe des Orts.

Slowjanoserbsk: Laut Truth Hounds berichteten Vertreter der sogenannten LNR lediglich zweimal über Angriffe von ukrainischen Truppen, bei denen Zivilisten in der Nähe von Slowjanoserbsk den Tod fanden: Am 21. Oktober sollen zwei Bewohner des Dorfes Sokolniki ermordet worden sein und die ukrainische Luftwaffe soll mit Tuberkulose infizierte Flugblätter über dem Dorf abgeworfen haben. Nach dem Sommer 2014 waren ukrainische Truppen nicht mehr in der Gegend um Slowjanoserbsk präsent.

Sokolohorivka: Die südwestlich von Sokolohorivka gelegene Ortschaft Perwomaisk wurde schwer durch ukrainischen Artilleriebeschuss getroffen, wobei im August 2014 rund 200 Zivilisten getötet wurden. Vermutlich wurden einige dieser Opfer vorübergehend in einem Massengrab in Sokolohorivka bestattet, da Perwomaisk ständig beschossen wurde. Am 31. August betteten Vertreter der sogenannten LNR die Überreste von 30 Zivilisten um, die angeblich in einem Massengrab gefunden worden waren. Ukrainische Truppen sind seit August 2014 nicht mehr in die Nähe von Perwomaisk und Sokolohorivka gelangt.

Vidnoje: Falls tatsächlich ein Massengrab in diesem Dorf gefunden wurde, dann ist es laut Truth Hounds sehr wahrscheinlich, dass dort Tote aus dem südlichen Teil des nahegelegenen Luhansk beerdigt wurden. Vidnoje taucht jedoch vor November 2021 nie in Medienberichten oder persönlichen Zeugenaussagen auf. Damals wurde mitgeteilt, es seien 165 Leichen gefunden worden. Nach Angaben der sogenannten LNR waren sie aus Luhansk und weiteren Ortschaften in der Nähe nach Vidnoje gebracht worden.

Werchnoschewyriwka: In dem Dorf wurden Ende August 2021 laut der sogenannten LNR die Überreste von 36 Zivilisten gefunden. Auch hier tauchte der Name des Ortes erst dann in prorussischen Medienberichten auf. Es gab keine Berichte über zivile Opfer der ukrainischen Truppen in Werchnoschewyriwka oder in der Nähe.

Fazit

Die von russischer Seite vorgebrachte Behauptung, im Donbass hätten die ukrainischen Truppen einen Genozid verübt, ist haltlos. Die im Bericht des russischen Ermittlungskomitees erwähnten fünf Massengräber, deren Existenz nicht in allen fünf Fällen als gesichert gelten darf, sind kein tauglicher Beweis für die Behauptung. Ob die dort bestatteten Leichen tatsächlich Opfer von ukrainischen Kampfhandlungen waren, ist ebenfalls nicht in allen Fällen gesichert, zumal die ukrainischen Truppen diese Orte nur kurz oder gar nie kontrollierten.

Dass durch ukrainische Angriffe, insbesondere durch Artilleriebeschuss, zahlreiche Zivilisten im Donbass ums Leben gekommen sind, steht ausser Frage. Dies ist jedoch noch kein Genozid, da keine gezielte Tötung von bestimmten ethnisch oder sonst wie definierten Gruppen feststellbar ist – nicht jeder Krieg ist ein Genozid, selbst wenn er Todesopfer unter den Zivilisten fordert. Auch unabhängige Stellen wie das UNHCHR oder die OSZE-Beobachtermission konnten keine Hinweise auf einen Genozid feststellen.