Wer hat 2022 den Frieden in der Ukraine verhindert? (ZDF)

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Wer hat 2022 den Frieden in der Ukraine verhindert?
24.06.2024 | 12:45

Kreml-Chef Putin behauptet, Friedensverhandlungen mit der Ukraine hätten 2022 kurz vor einer Einigung gestanden, der Westen habe das verhindert. Was ist dran? Ein Backgroundcheck.

Nach der Ukraine-Konferenz in der Schweiz Mitte Juni kam aus Moskau zunächst nur Hohn: Die Ergebnisse dieses Treffens seien „nahe Null“, sagte der russische Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Die Konferenz habe gezeigt, dass Gespräche ohne eine Teilnahme Russlands sinnlos seien. Der Kreml sei aber weiterhin für einen Dialog mit allen Ländern offen, die einen solchen anstrebten, hieß es.

Nach über zwei Jahren Krieg in der Ukraine mit zigtausenden Toten sind jedoch keine Friedensverhandlungen in Sicht. Welche Bemühungen gab es bisher – und was ist daraus geworden? Welche Rolle spielte dabei der Westen und insbesondere der frühere britische Premierminister Boris Johnson? Hatte er bereits vor zwei Jahren Friedensverhandlungen verhindert, wie manche Politiker behaupten? ZDFheute analysiert die verschiedenen Positionen und fasst die wichtigsten Fakten dazu in einem Backgroundcheck zusammen.

Erste Verhandlungen nach Kriegsbeginn

Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde klar: Russland hatte sich verkalkuliert, die Invasion verlief für Moskau denkbar schlecht. Die sogenannte „Spezialoperation“ sollte eigentlich nur wenige Tage dauern, stattdessen gab es für die russische Armee herbe Rückschläge. Oleksandr Chalyi, ein führender Verhandler der Ukraine, erklärte, Putin habe schnell erkannt, dass er einen Fehler gemacht habe und versuchte, ein Abkommen zu erreichen.

Erste Gespräche ab dem 28. Februar verliefen ergebnislos, bis sich bei Verhandlungen in Istanbul Ende März erste Fortschritte abzeichneten. Es kam sogar zu einer Reihe von Vertragsentwürfen. Die Delegationen gingen offenbar davon aus, noch im April ein Friedensabkommen unterzeichnen zu können. Im Mai endeten die Gespräche aber ergebnislos. Was war passiert?

Putin: Westen stoppte Verhandlungen in Istanbul

Russlands Präsident Wladimir Putin sagte in einem Interview im Februar 2024, der Krieg hätte schon vor zwei Jahren beendet werden können, hätte der Westen bei den Friedensverhandlungen nicht interveniert. Auch deutsche Politiker und Politikerinnen, allen voran BSW-Chefin Sahra Wagenknecht, wiederholten immer wieder diese Bahauptung.

Faktencheck

Als Beweis, dass der Westen Friedensverhandlungen gestoppt habe, wird ein Treffen des britischen Premiers Johnson mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 9. April genannt. Johnsons Rat damals: Nichts unterschreiben, weiterkämpfen. So schilderte es zumindest der Leiter der ukrainischen Verhandlungsdelegation, David Arachamija, in einem Interview.
Aber: Arachamija sagte im selben Gespräch auch, dass die Ukraine – unabhängig von den Einwänden Johnsons – zu dem Zeitpunkt nicht bereit gewesen sei, einem Abkommen zuzustimmen.

Woran scheiterten die Verhandlungen wirklich?

Tatsächlich gab es im Frühling 2022 eine Reihe komplexer Faktoren, die Friedensverhandlungen scheitern ließen:

Ukrainische Erfolge auf dem Schlachtfeld: Die Ukraine schaffte es, die Angriffe auf Kiew und Charkiw abzuwehren, und konnte die russischen Truppen erfolgreich zurückdrängen. Russland geriet in die Defensive, stoppte den Vormarsch auf Kiew und konzentrierte sich von diesem Zeitpunkt an auf die Donbass-Region. Die bisherige Strategie der westlichen Verbündeten – mehr Waffenlieferungen für die Ukraine, immer striktere Sanktionen gegen Russland – schien zunächst erfolgreich. Das machte die Ukraine zuversichtlich, keinen für sie allzu schlechten diplomatischen Kompromiss eingehen zu müssen.

Das Massaker von Butscha: Am 1. April 2022 wurde bekannt, dass russische Truppen in dem Kiewer Vorort über 300 Zivilistinnen und Zivilisten getötet hatten. In den Tagen darauf fanden Ermittler Massengräber und Anzeichen für Folter an Leichen. Das verschlechterte die Beziehungen beider Länder noch weiter.

Grundlegende Probleme mit dem Istanbuler Kommuniqué: Beide Seiten lagen in etlichen Punkten noch weit auseinander, beispielsweise über die von der Ukraine geforderten Sicherheitsgarantien oder die Frage, wie mit der russisch-ukrainischen Grenze in der Ostukraine umgegangen werden sollte. Außerdem war noch offen, wie genau die von Russland verlangte „Entmilitarisierung“ der Ukraine aussehen sollte.

Mangelndes Vertrauen der Ukraine: Es gab auf ukrainischer Seite eine wachsende Skepsis, wie ernsthaft die Russen überhaupt an einer Lösung interessiert waren. So schien die russische Delegation beispielsweise selbst gar keinen engen Kontakt zu Putin zu haben. Ausgehandelte Kompromisse sollen zudem nach Vorlage im Kreml vom russischen Präsidenten abgelehnt worden sein.

Eine diplomatische Lösung war aus diesen Gründen im April immer unwahrscheinlicher geworden. Beide Seiten gingen im Mai schließlich ohne Friedensabkommen auseinander. Der finale Bruch kam im September 2022, nachdem Russland vier besetzte ukrainische Gebiete völkerrechtswidrig zu russischem Staatsgebiet erklärte.

Wie geht es weiter?

Militärexperte Gustav Gressel glaubt, dass Russland derzeit versucht, seine ursprünglichen politischen Ziele mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Das Land werde „wahrscheinlich mindestens bis 2026 die Mittel dazu haben“. Danach könne es zu einem „Erschöpfungsfrieden“ kommen, so Gressel.

So gibt es diverse Szenarien, wie der Krieg enden könnte. Doch die Verhandlungen zu Beginn des Kriegs werden dabei kaum noch eine Rolle spielen.