Er seifte sich das Kinn. Altmodisch, aber so war er eben. Es gab längst die neuen Rasierapparate mit elektronischer Schnittregelung. Die Spraydose mit dem Schaum wurde gerade leer. Er würde nachher einkaufen müssen.
Dann setzte er den primitiven Handrasierer mit der Klinge an. Manchmal fragte er sich, warum es ihm so wichtig war, dieses Gerät zu benutzen. Wahrscheinlich war es eine Frage der Identität.
Da hatte er einen Moment nicht aufgepasst. Ein winziger Schnitt auf seiner rechten Wange blieb zurück. Nicht so schlimm, dachte er. Das heilt schnell wieder.
Als er sich die Reste des Seifenschaums abwischte, bildete sich noch ein kleiner Blutstropfen an der Stelle neben seiner Nase, der dann auf der feuchten Haut verlief. Er zog sich an, sorgsam bedacht, dass der Hemdkragen nicht die rötliche Stelle auf seiner Wange berührte. Dann zog er sich den Mantel über. Er griff nach seiner Aktentasche. Beim Hinausgehen kam ihm noch die Idee, ein Papiertaschentuch mitzunehmen, um die Wange später noch einmal abzutupfen.
Kein Schlüssel mehr nötig wie früher. Er zog die Tür hinter sich zu und sah im Augenwinkel die Linse der Kamera mit dem Infrarotsensor und dem Gitter des Lautsprechers. Und daneben das Namensschild: Werner Dehmel. Elektronikspezialist, setzte er stolz in Gedanken dazu.
Im Aufzug (Abzug?) hatte er die Sache mit dem Rasierapparat schon vergessen. Erst als er das Laufband verließ, das hinunter in die U-Bahn führte, und den Bahnsteig betrat, dachte er wieder an den Schnitt, fasste sich ins Gesicht und besah sich den Finger. Es hatte angefangen zu bluten; ein dünner roter Streifen war auf dem Finger zu sehen, und er wischte ihn am Rand des Fahrkartenautomaten ab. Er stellte sich vor das Gerät und drückte die grüne Taste. Die Maschine schnurrte ein bisschen, die Kamera blinkte, aber statt den Fahrschein auszuspucken, schickte der Kasten nur eine blecherne Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Tut mir leid, Ihre Daten befinden sich nicht in unserem Speicher. Bitte zahlen Sie bar.“ Fluchend begann er, nach Münzen zu kramen. Natürlich fand er keine, bis auf ein Fünf-Cent-Stück in der Manteltasche. Er würde wohl zu spät zur Arbeit kommen. Noch einmal nach Hause zu gehen und dort nach Münzen zu suchen, würde noch länger dauern. Es war nur die Strecke bis zur nächsten Bahnstation, die er auch laufen konnte. Missmutig stellte er sich auf das Laufband, das ihn ans Tageslicht brachte.
Das Firmengebäude sah aus wie immer, ein glatter Klotz aus hellbraun getöntem Glas und dunkelbraunem Kunststoff. Abweisend. Aber er kam ja nicht als Bittsteller, sondern als leitender Angestellter zur Tür.
Erleichtert trat er vor die Kamera am Eingang. Die begann zu blinken, gleich würde ihn die Stimme aus dem Lautsprecher begrüßen.
Blink, blink. Das dauerte aber lange. Zu lange. „Guten Tag. Sie wünschen bitte?“ Häh? Das wurde ja immer bunter. War vielleicht die Schnittwunde Schuld? Er blickte in die braungetönte Glasscheibe. Auf der Wunde hatte sich ein wenig Schorf gebildet. Aha, deshalb erkannte ihn das Computerprogramm nicht.
Ärgerlich nahm er das Papiertaschtuch und wischte sich über das Gesicht. „Guten Tag. Sie wünschen bitte?“ Er wandte sich wieder zum Lautsprecher und schnauzte: „Ich bin Walter Dehmel!“ „Tut mir leid, Ihre Daten befinden sich nicht in unserem Speicher. Bitte nennen Sie Ihren Namen.“ „Grrr! Walter Dehmel!“ „Guten Tag, Herr Grwalter Dämel. Wen wünschen Sie bitte zu sprechen?“ „Walter Dehmel!“ „Tut mir leid, Herr Dehmel befindet sich zur Zeit nicht im Haus. Wenn Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen möchten, sprechen Sie bitte jetzt.“ „Ich bin selbst Walter Dehmel! Ich will an meinen Arbeitsplatz!“ „Vielen Dank, Herr Grwalter Dämel. Auf Wiedersehen.“
Er stand wie vom Donner gerührt. Wie sollte er das denn einem vernünftigen Menschen erklären?
Schließlich ging er nach Haus. Er konnte ja in der Firma anrufen, dann würde sich das alles aufklären lassen. Hoffentlich ließ ihn wenigstens seine eigene Tür durch. Er war sich plötzlich gar nicht mehr sicher.
Langsam brach die Welt um ihn zusammen.
Die Haustür. Blink, blink. „Guten Tag, Sie wünschen bitte?“ Der Schweiß brach ihm aus. Jetzt nur nichts falsch machen! „Ich bin Walter Dehmel.“ „Tut mir leid, Ihre Daten befinden sich nicht in unserem Speicher.“ Allmählich durchschaute er das Spiel. „Ich bin Walter Dehmel.“ „Bitte weisen Sie sich aus. Wie lautet der Mädchenname Ihrer Mutter?“ „Hilde.“ „Welche Kinderkrankheiten hatten Sie?“ „Masern, Mumps, Windpocken.“ „Wie hieß Ihre erste Klassenlehrerin?“ „Fiedler.“ „Beantragen Sie eine Korrektur Ihrer Daten?“ „Ja.“ „Korrektur erfolgt.“ Die Tür öffnete sich. Erleichtert atmete er auf. Der Fahrstuhl ging zum Glück noch mit einfachen Infrarottasten. Im sechzehnten Stock kam er sanft wie eine Feder zum Stehen.
Nun stand Walter vor seiner Wohnungstür. Diesmal ging alles glatt, die Tür schwang auf. Er warf sich in seinen Sessel, während der Kaffeeautomat zischte. Dann fiel ihm ein, dass er in der Firma anrufen musste.
Unlustig griff er zum Telefon. Tut Computerstimme. „Guten Tag. Sie wünschen bitte?“ „Ich möchte Bezirksleiter Waninger sprechen.“ „Wen darf ich bitte melden?“ „Walter Dehmel.“ „Tut mir leid, Herr Waninger ist nicht zu sprechen. Wenn Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen möchten, sprechen Sie bitte jetzt.“ Mühsam, mit dem letzten Rest seiner Geduld, schilderte er sein Anliegen.
Er ging ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Auf dem Schnitt hatte sich der Schorf verfestigt. Als er daran rieb, fielen einige Krümel zu Boden, etwa die Hälfte des Schnittes war wieder zu sehen. Jetzt wagte er nicht mehr daran zu rühren; in ein paar Tagen würde alles unsichtbar sein.
Das Telefon klingelte. Walter zuckte zusammen, dann nahm er den Hörer in die Hand.
Die Leitung war tot.
Zitternd legte er den Hörer hin, dann kam ihm ein Gedanke. Er schaltete den Bildschirm des Hausnetzes ein. Die Kamera blinkte. „Guten Tag. Sie wünschen bitte?“ „Ich bin Walter Dehmel.“ „Tut mir leid, Ihre Daten befinden sich nicht in unserem Speicher.“ „Ich bin Walter Dehmel.“ „Bitte weisen Sie sich aus. Wie hieß Ihr bevorzugter Spielwarenhändler?“ „Ottokar.“ „Mit wem hatten Sie Ihren ersten Geschlechtsverkehr?“ „Sieglinde Meier.“ „Welche Speise hassen Sie am meisten?“ „Aal grün.“ „Beantragen Sie eine Korrektur Ihrer Daten?“ „Ja.“ „Tut mir leid, die Daten sind heute bereits korrigiert worden. Pro Tag ist nur eine Korrektur zulässig.“ Schweigen.
Er gab auf und legte sich auf das Bett. In seinem Kopf kreisten die Gedanken. Nach langem, fruchtlosem Grübeln schlief er ein.
Früh am nächsten Morgen quälte er sich aus dem Bett. Eigentlich müsste er sich rasieren. Der Griff zum Rasiergerät fiel ihm aber schwer. Also ließ er es.
Aus dem Wasserhahn kam kein Wasser. Stöhnend tastete er sich zum Bildschirm des Hausnetzes. Er schaltete ein, die Kamera blinkte. „Guten Tag. Sie wünschen bitte?“ „Ich bin Walter Dehmel.“ „Tut mir leid, Ihre Daten befinden sich nicht in unserem Speicher.“ Nun gut, er hatte es auch gar nicht mehr erwartet. „Ich bin Walter Dehmel.“ „Bitte weisen Sie sich aus. Welche Marke hatte Ihr erstes Auto?“ „Volkswagen.“ „In welchem Jahr starb Ihr Vater?“ „Zweitausendzwei.“ „Was ist Ihre Sozialversicherungsnummer?“ Au wei. Natürlich kannte er sie nicht auswendig. Er musste suchen. Im Schubfach. Zweites von unten. Während er noch kramte, hörte er, wie die Stimme die Frage wiederholte.
Es wäre müßig, der Stimme zu erzählen, dass er noch nicht gefunden hatte, was er suchte. Sie fragte auch nicht weiter. Als er das Versicherungsheftchen gefunden hatte und zum Bildschirm zurückgekehrt war, blinkte dort nichts mehr. Wieder schaltete er ein. Die Kamera blinkte. „Guten Tag. Sie wünschen bitte?“
„Ich bin Walter Dehmel.“ „Tut mir leid, Ihre Daten befinden sich nicht in unserem Speicher.“ „Ich bin Walter Dehmel.“ „Bitte weisen Sie sich aus. Was war im sechsten Lebensjahr Ihre bevorzugte Zutat zur Milch?“ „Himbeersaft.“ „In welcher Stadt wohnte Ihre Großmutter?“ „Kiel.“ „In welches Land führte Ihre erste Auslandsreise?“ „Dänemark.“ „Beantragen Sie eine Korrektur Ihrer Daten?“ „Ja.“ „Tut mir leid, heute wurde ein Versuch unternommen, Ihre Daten ohne Zugriffsberechtigung zu verändern. Die Korrekturfunktion ist für den Rest des Tages gesperrt.“
Walter sank zu Boden. In einer unbequemen Hocke, gegen die Wand gelehnt, versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen. Mit einer gewissen Erleichterung stellte er fest, dass der Schmerz in seinen Knien die aufkommende Panik etwas abmilderte. War er jetzt ein Niemand? Vielleicht schon ohne Arbeit, ohne Geld, morgen ohne Wohnung? Er würde verhungern und verdursten. Wenn er seine Wohnung verließ, würde er auf der Straße bleiben müssen. Ruhig bleiben, Walter, ruhig bleiben. War er überhaupt noch Walter? Er war wohl der einzige Mensch, der noch dieser Meinung war.
Dann fiel ihm ein, dass er heute noch mit keinem Menschen gesprochen hatte. Die Menschen in der U-Bahn waren an ihm vorbeigelaufen und hatten sein Unglück nicht bemerkt. Allenfalls sein Chef mochte sich wundern. Die Menschen hatten gar nichts damit zu tun. Die ganze Misere hatte ihren Lauf genommen, als er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Und dann hatten ihn die Computer nicht mehr erkannt.
Er atmete tief durch. Jetzt wusste er, was zu tun war.
Mit frischem Mut marschierte er ins Badezimmer und griff nach dem Rasierzeug.
Und stockte. Schaum, den bräuchte er jetzt. Er würde ihn anrühren müssen. Und aus dem Wasserhahn kam immer noch kein Wasser. Schließlich fand er in der Küche eine Dose Ananas. Wenigstens gab es noch Strom, dachte er erleichtert, als der elektrische Büchsenöffner surrte und der Deckel in die Dose sackte.
Dann nahm er eine Schüssel und rührte aus dem Saft und der Seife den Schaum. Sorgfältig schäumte er sein Kinn. Das Rasierzeug tat seine Arbeit. Er passte höllisch auf, dass er nicht den Schorf beschädigte; dann trocknete er sich ab und besah sich im Spiegel.
Dann kam ihm noch eine Idee. Aus dem untersten Fach im Wandschränkchen des Waschbeckens kramte er einen Lippenstift, der dort lag, seit seine Verflossene ihn hinterlassen hatte. Damit ergänzte er den bereits abgefallenen Schorf.
Die letzten Meter auf dem Weg zum Bildschirm waren eine Zerreißprobe für seine Nerven. Wenn jetzt der Strom abgesperrt wird…! Eigentlich konnte es jeden Moment soweit sein. Nun schaltete er den Bildschirm ein. Die Kamera blinkte.
„Guten Tag, Herr Dehmel. Was kann ich für Sie tun?“
(Sie werden bemerken, dass der Schluss ein wenig optimistisch ist. Man hätte das alles noch weiter ausmalen können, etwa den Strom abschalten, oder den Helden versehentlich vor der zugeklappten Wohnungstür stehen lassen.. Wenn es Sie mehr befriedigt, können Sie ja einen anderen Schluss schreiben. Und natürlich ist das alles eine Parabel auf die Gefühle eines Psychologen, der sich dem Zulassungsverfahren nach dem Psychotherapeutengesetz unterwerfen muss. Geschrieben anno 1999)