Neue Zürcher Zeitung
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Putin veranstaltet in den besetzten ukrainischen Gebieten eine Wahlfarce – das bringt die Bewohner von mehreren Seiten unter Druck
Laut den Okkupationsbehörden in Cherson, Saporischja, Donezk und Luhansk hat mehr als die Hälfte der Bewohner bereits über einen Anschluss an Russland entschieden. Allerdings wirken nicht nur diese Zahlen völlig willkürlich.
Ivo Mijnssen, Wien 26.09.2022, 16.52 Uhr
Der Vorteil einer pseudodemokratischen Farce besteht darin, dass schon vor ihrem Beginn alles klar ist – zumindest in Propagandamedien wie der russischen Nachrichtenagentur Tass. Dort konnten die Okkupationsbehörden am Montag, dem vierten Tag der «Volksabstimmungen» in den besetzten ukrainischen Gebieten Cherson, Saporischja, Donezk und Luhansk, deren «Gültigkeit» verkünden: In allen vier Oblasten hat sich offiziell eine Mehrheit der Bevölkerung beteiligt. Den Ja-Anteil «errechnete» ein Meinungsforschungsinstitut auf der annektierten Halbinsel Krim gleich mit 93 Prozent.
Quelle: LiveUAMap, Stand: 21. 9. 2022
NZZ / adi.
Allerdings anerkennt kein einziges demokratisches Land Europas die Abstimmungen. Für scheinbare Legitimität vor Ort sorgen nur Beobachter, die von diktatorischen Staaten wie Weissrussland und Venezuela entsandt sind oder für obskure deutsche Medien arbeiten. Ein solcher «Journalist» findet, der Urnengang in Luhansk entspreche «allen internationalen Prinzipien der freien und geheimen Stimmabgabe».
Dissonanzen im Propagandabild
Dabei reicht ein Blick auf die russischen Propagandavideos, um dies anzuzweifeln. Diese bemühen sich zwar, den Eindruck einer freien Entscheidung zu vermitteln, mit Bildern von Menschen, welche etwa die Frage «Sind Sie für den Austritt der Oblast Saporischja aus der Ukraine, die Schaffung eines selbständigen Staates und den Beitritt Saporischjas zur Russischen Föderation?» mit Ja ankreuzen.
Doch die Glasurnen, in denen die Wahlzettel grossteils offen lesbar liegen, vermitteln eher den Eindruck von Überwachung als Transparenz. Die mobilen Wahltrupps, die von Haus zu Haus gehen, dürften genau wissen, wie abgestimmt wird. Ukrainische Medien, welche die «Plebiszite» interessanterweise grösstenteils ignorieren, um ihnen kein zusätzliches politisches Gewicht zu geben, berichten über moralischen Druck, Stimmenkauf und bewaffnete Begleiter der «Wahlhelfer».
Feste Lokale gibt es nur vereinzelt, angeblich aus Sicherheitsgründen. Laut russischen Propagandisten haben ukrainische Raketen mehrere Wahllokale getroffen. Bereits diese labile Sicherheitslage führt den Urnengang ad absurdum – von seiner Völkerrechtswidrigkeit ganz zu schweigen.
Auch die Erfolgsmeldungen über die angeblich hohe Wahlbeteiligung werfen Fragen auf. Da es auch auf ukrainischer Seite nur Schätzungen darüber gibt, wie viele Menschen in den besetzten Gebieten verblieben sind, dürften auch die mit Russland kollaborierenden Regionalbehörden nur einen teilweisen Überblick haben. Die 50 Prozent in Cherson beziehen sich jedenfalls kaum auf die Vorkriegsbevölkerung, zumal der Region auch ein Teil der Oblast Mikolajiw zugeschlagen wurde.
Das «Plebiszit» wurde trotz wiederholten Ankündigungen zusammen mit der Teilmobilisierung innert weniger Tage aus dem Boden gestampft. Dabei bleibt unklar, wer wahlberechtigt ist, zumal viele Menschen nach Russland oder in die nicht besetzten Teile der Ukraine vertrieben wurden. Laut dem Kreml sollen zumindest Erstere wählen dürfen: Die Gouverneure haben Hotlines eingerichtet, die laut prorussischen Bloggern allerdings zunächst entweder ständig besetzt oder nicht bedient waren.
Sehr viel deutet somit darauf hin, dass sich die Menschen der «Volksbefragung», so gut es geht, entziehen. Dies spielt letztlich zwar keine Rolle, da deren Resultate sowieso wie von Moskau gewünscht ausfallen werden. Aber nicht einmal die russische Propaganda schafft es, den Eindruck von Feierlichkeit und somit eine mobilisierende Wirkung zu erzeugen: So zieht selbst ein Stand mit Getränken, Zuckerwatte und russischen Fähnchen in Cherson nur ein paar Pensionärinnen an. Auf anderen Videos sind mobile Teams zu sehen, die in leeren Höfen vor Plattenbauten Pop-Musik abspielen und die Menschen zur Abstimmung rufen.
Wahlabstinenz ist jedenfalls aus verschiedenen Gründen eine kluge Strategie: Zum einen fürchten die Bewohner der besetzten Gebiete, dass die Besatzer die Wahlregister dazu nützen werden, die Männer nach der Annexion in die russische Armee einzuziehen. Der ukrainische Bürgermeister von Melitopol meldete, die Leute würden gezwungen, in der Stadt zu bleiben. Bereits in den letzten Monaten gab es regelmässig Berichte über Zwangsmobilisierungen.
Zum anderen fürchtet sich die Bevölkerung in den besetzten Gebieten, bei einer Beteiligung als Kollaborateure zu gelten. Präsident Selenski fordert sie eindringlich dazu auf, nicht an der Befragung teilzunehmen; die Ukrainer könnten dies als Verrat werten – mit juristischen Folgen. Auch Partisanengruppen sind in vielen Städten aktiv und versuchen, die Farce zu vereiteln, bisher allerdings erfolglos. Russische «Wahlhelfer» klagen über ein Klima der Angst.
Damit lassen sie aber auch tief in ihre eigene Stimmungslage blicken: Die erfolgreiche Gegenoffensive im Gebiet Charkiw hat ihnen gezeigt, wie rasch Russlands Front kollabieren kann. Mit den Pseudoplebisziten geht Putin aufs Ganze, um die Ukrainer von einem Vormarsch abzuschrecken. Dass sie sich von seinen Drohungen beeindrucken lassen, ist aber ebenso unwahrscheinlich wie die Anerkennung der Legitimität seiner Farce.